6.1  Der Lyrik-Wettbewerb

6.1 Der Lyrik-Wettbewerb

Den Lyrik-Wettbewerb hatte sich Büsing (der Belesene, auch: der Erhellte) ausgedacht. Der las einfach zu viel Bücher. Statt mal die Tasten seines Keyboards anzufassen. Vermutlich einer der Gründe, warum Manni Drewes und unser Sänger Charly Müller (oder Meier), von dem wir immer noch nicht wussten, wo der eigentlich wohnte, ob er einen Job hatte und überhaupt: Schon seltsam, dass er seinen Nachnamen nicht verraten wollte, vielleicht war er kriminell und die Polizei suchte ihn, na, jedenfalls, wo war ich noch, ach ja, die beiden, also Manni und Charly, stiegen aus dem Organisationsteam aus, weil, mit so einem Scheiß wollen wir nichts zu tun haben, was hat das noch mit anständiger Rockmusik zu tun, häh, wir sollten lieber mal eigene Stücke schreiben, die nicht immer im Chaos enden – aber da erwischten sie Büsing auf dem falschen Fuß, von wegen Stücke schreiben, ja, wie denn, etwa mit Bleistift und Notenpapier?

NOTEN???

„Komisch“, wirst du unredliche Zweifel in meine Erinnerungsnotate aussähen, „ausgerechnet einer wie Büsing, der Belesene, verweigert sich der musikalischen Tradition, lehnt das Handwerkszeug ab, das als Grundlage und Voraussetzung nicht nur für höhere, sondern für alle denkbaren Ansprüche unabdingbar ist?“

Tja, wer blickt schon in das Hirn eines anderen Menschen, zumal in das Synapsengewimmel eines Büsing?

Dabei war ich ‚bei ihm‘, ein Ausdruck, der in Talkshows von Teilnehmern herausgegulpt wird, wenn sie sich der gegenseitigen Übereinstimmung brunstdumpfer Gefühligkeiten bezichtigen. Hier stelle ich präzise fest: Die Übereinstimmung mit Büsing beruhte auf einer Spiegelung unserer Aktivitäten. Hie der Büsing als bücherfressendes Lesemonstrum und Logikkiller, dort ein Feingeist und sensibler Seismograph des quälenden Unrechts in der Gesellschaft, der seine Anklagen in Gedichten und seitenlangen Manifesten aufs Papier warf, ja das glaubst du wieder nicht, weil dir genau dieses abgeht: Als Jugendlicher war man (das bin ich) damals so, und die Pubertät erstreckte sich bis ins hohe Alter jenseits der Schulpflicht, und das bedeutete Depressionsexzesse, schmachtende Liebeselogen, Hasstiraden auf die da oben mit ihren kriminellen Geschäften sowie verstörende Experimente in Prosa unter der Knute poetischer Wallungen.

Die Aufgabe bei dem Lyrik-Wettbewerb schien einfach und war in Wirklichkeit ein Rezitierwettbewerb: Die Teilnehmer mussten ein Gedicht auf möglichst unkonventionelle Art vortragen. Du stellst dir jetzt sicher vor, wie ein paar der üblichen Wichtigtuer, die sich gern in den Vordergrund drängen, die Zeilen des Gedichtes singen, brüllen, sich auf den Bodem wälzen und letzte Zuckungen von sich geben, Reime schmeichelnd flüstern oder auch mit Grimassen und wildem Gefuchtel begleiten. So in etwa hatten wir uns das auch gedacht, allerdings hatten wir zwei Regeln vorgegeben, die es in sich hatten. Zum einen musste das Gedicht auswendig vorgetragen werden. Schien keine unüberwindliche Hürde zu sein, solange man das Gedicht nicht kannte. Und das war der Knackpunkt: Büsing hatte die Ballade „Der Ring des Polykrates“ von Friedrich von Schiller ausgesucht mit ihren 15 umfangreichen Strophen.

Die zweite Regel ist mir entfallen.

Als Preis präsentierten wir eine Flasche Weizenkorn und ein Korb voller Mettwürste, gesponsert vom Fleischermeister Karl-Heinz Büsing, Verseschmied und Vater unseres Keyboarders, dem Erleuchteten mit der Zahnlücke.

Ich ahne es: Der Preis erinnert dich an die Preisgelder bei Skatturnieren, aber mehr war nicht drin.
Spätestens jetzt musst du zugeben, dass Karl-Heinz Büsing nicht das übliche Fleischermeister-Klischee bediente: grobschlächtig (schlächtig!), unsensibel, ungebildet, kulturlos.

Du kannst dir einprägen: Ganz im Gegenteil!

Und ich setze noch einen drauf, damit du dein Vorurteil revidierst: Büsing, der Vater, schaltete mit der ihm eigenen dicken Hose eine Ankündigung unseres Events im Anzeigenblatt ‚Regionaler Bote‘, und darunter gleich noch ein feines Gedicht, um die Sache abzurunden:

Mettwurstbrötchen schmeckt nur lecker,
wenn du’s nicht kaufst bei ’nem Bäcker,
sondern schnurstracks eilst kopfheister
zu dem besten Fleischermeister:
Karl-Heinz Büsing, ja so heißt er.

Schon eine Stunde vor Beginn war der Saal bis auf den letzten Platz besetzt. Vor der Theke drängelten sich die Säufer, Zwischenrufer und Abschlussrandalierer. Ich hatte es schon angedeutet: Unsere Konzerte wie auch die Performances endeten jedes Mal mit einer Prügelei zwischen studentisch tuenden Oberschülern und den Lehrlingen der ansässigen Metallgießerei. Den meisten schien es eh nur um die Prügelei zu gehen, wobei die Veranstaltung als Aufhänger diente, um am Wochenende so richtig die Sau rauszulassen.

Büsing trat vor das Mikrophon. Einige applaudierten. Vielleicht glaubten sie, der Wettbewerb wäre endlich zu Ende und sie konnten schon mal die Fäuste ballen. Sie waren ja unsere Regellosigkeiten gewohnt. Einmal hatten wir die angekündigte Veranstaltung um drei Stunden vorgezogen, und als die ersten Gäste eintrafen, war schon Schluss. Behaupteten wir. Das war perfide, und als wir durchblicken ließen, dass wir nackt einen Eurythmietanz aufgeführt hatten mit einer Dornenkrone auf dem Haupt, einem geschlachteten Huhn um den Hals gebunden und dem gleichzeitigen Absingen der deutschen Nationalhymne, erste Strophe, flammte vor Enttäuschung ein Wutglühen in den Gesichtern der Geprellten auf, und bei der anschließend sehr emotional geführten Prügelei trugen wir einen Sack voll Lateralschäden davon (Beulen, blaue Flecke und noch irgendwas, was mit B anfängt, ach ja, Blutergüsse).

Mannomann, ob unser Ex-Fan vor dem Buchladen Geissendorfer die Fratze der Gegenkultur nicht lieber im Augenverdrehen seiner Tochter verorten sollte?

Fiel mir grad ein.

Ich kletterte ebenfalls auf die Bühne, stellte mich neben Büsing und wedelte abwehrend mit den Armen, um anzudeuten, dass das Publikum sich noch etwas gedulden möge. Mein nonverbales Kommunikationstableau, so möchte ich es einmal nennen, findet wenig Widerhall bei meinen Mitmenschen, und meine Frau Anna winkt auch nur ab, wenn ich verheißungsvolle Bewegungen ausführe, die ich als Offerte verstehe, Anna aber lediglich als spastisches Surrogat meines verkümmerten Sprechapparates.

Das nebenbei.

Ein paar Bierdeckel segelten auf die Bühne, einer traf Büsing am Ohr. Das hielt ihn nicht davon ab, das Mikrophon anzustellen. Er rief probeweise ein paarmal „One two, one two test“ hinein und „Alle mal herhören“ und legte mit einer Ansprache los, die, wie er anscheinend hoffte, die Ungeduldigen da unten beruhigen würde. „Der Wert des Kreativen und Unangepassten“, hier machte er eine Pause, horchte in den Saal und tatsächlich: Von dort war kein Laut zu hören. Er senkte die Stimme, um ihr mehr Intensität zu verleihen, ein Trick, den er in einem Rhetorikratgeber gefunden hatte. „Der Wert des Seins an sich im Nichtsein des Unwirklichen, in einer Welt der Uniformierung, der konformen Duckmäuserei, die das Subjekt in der Spiegelung seines urtümlichen In-die-Welt-Geworfenseins …“

An dieser Stelle brauste aus dem Saal der Sturm einer ins Negative gewendeten Affirmation auf, so möchte ich es einmal im Büsing-Sprech artikulieren. Einfach ausgedrückt: Die Leute pfiffen und buhten.

Büsing brach ab und trat zurück. Nicht aus Angst vor dem Mob. Im Gegenteil, in dieser aufgeladenen Stimmung würde die Vortragskunst gedeihen wie die Löcher in einem Schweizer Käse.

„Nein“, rief Klöpper, „das tust du nicht!“

„Es bleibt mir keine andere Wahl.“ Mein Bedauern kam aus verwundetem Herzen. „Diese ganze Biografie wird mir langsam zu konventionell. Ich langweile ich. Ein Zwischenkapitel muss her, welches den Leser rauswirft aus seiner so schön eingerichteten Kuschelecke. Was bietet sich da mehr an als ein Kapitel der Alpensaga?“

„Dieser Leser bin ja wohl ich. Der hat auch Rechte. Dann bitte ich darum, wenigstens den Lyrik-Wettbewerb zu Ende zu bringen. Ein Freundesbeweis, eine Ehrerbietung für Jahre des nutzlosen Miteinanders, die dieser Leser mit dem Schreiber durchmessen hat.“

Er hatte ‚durchmessen‘ gesagt. Da gab ich nach.



6.2 Ein einfacher Satz

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