Vulnerabel

Vulnerabel

Tabea, die Tochter von Kuscheltherapeutin Susanne, hat ein neues Wort aufgeschnappt. Vulnerabel. Wie bekannt leidet Tabea unter der Missachtung ihrer Hochbegabung gepaart mit Hypersensibilität, eine explosive Mischung in der häuslichen Beinahe-Quarantäne. Wo sie das Wort herhat, frage ich. Susanne schüttelt ihre 7-Tage-Frisur, was ich aber nicht sehen kann, da wir nicht skypen, sondern altbacken telefonieren. Ich vernehme ein Geräusch wie Wisch & Wasch oder wie Husch & Kusch oder wie ein Staubbesen über dem Porzellandackel. Vulnerabel?

»Bei dem Drosten«, ruft Susanne, »dem Virologen mit dem Podcast. Da hat Tabea reingehört. Prompt hat sie Symptome an sich entdeckt, und nun ist sie vulnerabel.« Es raschelt im Hörer. »Wart mal«, keucht es angestrengt, »muss mal eben …«

Sie hat wohl grad einen Patienten in der Mangel, quasi Multitasking: Schwer kuscheln, gleichzeitig telefonieren. Wenn ich Patient sage, flippt Susanne aus. Es heißt Klient. Sie betreibe schließlich kein Sanatorium. Oder noch was Schlimmeres.

»Wie äußert sich denn das Vulnerable bei Tabea?« dränge ich mich zwischen die Kuschelarbeit. Das Stöhnen geht in ein Hecheln über. Kein Kommentar. »Gestern hat sie neue Anzeichen entdeckt«, ächzt Susanne, gepresst wie ein Daumen in der Schraubzwinge. »Ein Pickel. Dick wie Hölle. Frag nicht wo.« Ich frag nicht wo.

»Wo denn?« platzt es aus mir heraus, und in meiner Fantasie …, na lassen wir das. Susanne produziert ein Geräusch wie eine Luftpumpe am Limit. Kuschelarbeit halt. Ich wundere mich. »Wie geht das, Susanne, kuscheln in Zeiten von Corona, mit Abstand, Maske und alles? Brichst du etwa die Regeln und bringst uns alle in Gefahr?«

Ich zucke vom Hörer zurück. Ein spitzer Schrei. Gefolgt von einem Prusten, feucht und grundig wie von Walross Antje damals, das NDR-Maskottchen, erinnerst du dich? »Hallo!«, pfeift es aus dem Hörer, »Kuscheln? Spinnst du? Ich hab grad Tabeas Pickel ausgedrückt.«

»Prima«, sage ich, »dann ist Tabea ja auch nicht mehr vulnerabel.« Mir fällt das Jugendwort des Jahres ein: lost. Könnte gut sein, dass Tabea ›vulnerabel‹ mit ›lost‹ verwechselt hat. So hochbegabt wie sie ist.

Euer Heinzi

(Friesländer Bote 07.11.2020, letzte Seite)

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