1 Das Zimmer

1 Das Zimmer

Roman

Mensch, das musst du unbedingt aufschreiben“, rief Kollege Klöpper, und er schlug mir seine Pranke so begeistert auf die Schulter, dass ich zusammensackte und beinahe von der Sesselkante gerutscht wäre. Ich hatte ihm – so nebenbei eigentlich – einige Episoden meines Ereignislebens erzählt, also von dem Leben, in dem sich was ereignet hatte. Aus der Vorzeit meines derzeitigen Dahinseins. Vom Todesficker hatte ich geplaudert, dem Bassisten in der Schweineband, besser Schweinekapelle, bei der ich zeitweise als Gitarrist ‚angestellt‘ war. Todesficker, das bezog sich auf dessen Verhalten jenseits bürgerlicher Konventionen und moralischer Eingrenzungen.

Oder diese Sache mit Ritchie Blackmore.

Ritchie Blackmore?“ schluckte Klöpper ungläubig, „der von Deep Purple?“

Genau der“, sagte ich, „den hatte ich bei einem Vorspiel, Heutesprech ‚casting‘, ausgestochen, quasi an die Wand gespielt.“

Neee! Das glaub ich nicht.“

Kannst du aber.“ (Kein „Boah eh“ im Hintergrund, vermutlich aus schierer Überwältigung).

Ich hatte ihm von meiner Zeit in Hamburg erzählt, stückweis. Wo das Fräulein Lisbeth durch unserer Studentenbuden fegte. Fräulein Lisbeth täuschte jedes Mal, wenn sie eine Flasche Bier intus hatte, einen Orgasmus vor, frag nicht! Und das war lange Zeit vor dem Harry-und-Sally-Film.

Mann“, röchelte Klöpper nahe dem Zusammenbruch, „das muss alles zu Papier. Diese ganzen Muckerromane, die bisher herausgekommen sind, mit ihren Döntjes und Augenzwinkerkalauern sind doch ein Schiss dagegen. Schreib es auf, Mann!“

Ich schmiegte meine verrutschten Glieder wieder an die Formensprache des Sessels an. Klöpper tröpfelte Misstrauen in sein Timbre: „Stimmen deine Lebensbeichten überhaupt?“

So wahr ich Gott helfe.“ (Weil Gott hatte da so einige Lücken in seinem Werk hinterlassen).

Dann kannst du es nicht für dich behalten, Mann!“

Gut. Ich ließ mich überreden.

„Aber“, schränkte ich ein, „ich fang ganz von vorn an. Bei meiner Geburt. Chronologisch geordnet. Sonst Wirrwarr.“

Mach es, aber mach es.“ Klöpper meinte vermutlich: Mach es wie du willst, aber mach es.

Ja schon.

Aber Mist nochmal.

Weil, schon der Start in mein Leben begann mit einer Fehlzündung.

Das Leben anderer Menschen beginnt mit einem Urknall. Meins begann mit einem Fehlstart. Es war die Abwesenheit einer Garage, die meinen Fehlstart verursachte.

Meine Eltern verfügten nicht über die Mittel, um eine Garage zu unterhalten, damals, als sie Brosamen pickten auf der Erden Kruste, bildlich gesprochen. Der Krieg war aus. Die Flucht hatte ein Ende gefunden. Hier, auf dem Dorf in Niedersachsen plierten die Anwohner missgünstig. Kriegsverlierer waren nicht willkommen. Bleibt doch zuhause, der Iwan kann eure Arbeitskraft gut gebrauchen. Wir haben auch nur ein paar Schweine im Stall und müssen zusehen, wie wir klarkommen.

Auf Ansinnen einer Behörde hausten wir in einem einzigen ZIMMER, zusammengepfercht mit den zwei Kindern, Opa Karl, Tante Almut sowie einer Frau namens Elfriede (mir fällt nicht ein, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zu unserer Familie stand, vielleicht war sie nur so da, eine Externe, derer wir noch nicht überdrüssig wurden, weil sie zur Nahrungsbeschaffung beitrug, indem sie sich angeblich als ‚Palastdame‘ in den Adelshäusern verdingte fernab der proletierenden schwitzenden Malocher auf den Rübenfeldern und Kartoffelackern. Genau wusste in dem ZIMMER niemand, womit die Nichtangehörige sich das Tafelgeld zusammenschnurrte, denn als Palastdame, als die sie hochnäsig posierte, die eitle Kuh, die glubschäugige und mit Dünkel angeschickerte, ging sie weder beim Dorfschullehrer Hassenkötter durch noch beim Pastor Egidius, der lachte nur trocken in seine Soutane, rasselnd, mit versteinerten Kuttelresten hinten im Kropf, der alte Ganove, quasi Vorbote des Todes, ein Nichtwiedergänger, Klammer zu.

Sieben Personen also staken in dem ZIMMER fest. In jeder der vier Ecken des ZIMMERS wühlten sich zwei Personen durchs Tagesgeschäft, bis auf die eine Ecke, die ihr vakantes Besiedlungsareal hinter den Fetzen eines durchlöcherten Lakens verbarg, so dass zugewiesene Wohnungssuchende lange im ZIMMER herumirrten, bis sie schließlich den Funken Hoffnung auf ein von Sesshaftigkeit bestimmtes Dasein aufgaben und vor der Tür von einem Bein auf das andere traten, denn sonst hatten sie nichts gelernt und Fortbildung stand seinerzeit nicht auf der Agenda

Viel zu lange Sätze“, stöhnte Klöpper, als ich die ersten zwei Seiten ausgedruckt hatte, „was soll das? Mann, schreib so, wie du sprichst. Dann lauschen die Leser. Also die Zuhörer. Scheiß drauf.“

„Ich schreibe, wie es mir kommt“, sagte ich, „Scheiß drauf.“

In der nach Süden ausgerichteten Wohnecke, die den Namen Bahía del Sol trug, hatte sich die Palastdame eingerichtet mit Tante Almut als Untermieterin. Dieses Bahía del Sol, das ständig Anlass zu Kriegserklärungen, Sturmangriffen, Belagerungen und nächtlichen Überfällen bot, hatte Zugang zum einzigen Fenster des ZIMMERS. Trotz ihres erblindeten Glases erlaubte das Fenster einen sentimentalen Panoramablick auf den Misthaufen von Bauer Lüders, der wöchentlich Jauche auffuhr, die zum Erbrechen stank und derart dampfte, dass davon das Fenster nässend beschlug. Als Folge sudelte das ätzende Konzentrat der Jauchedünste an der Scheibe hinab und fraß sich in den Fensterkitt, der sich allmählich auflöste. Mit Nägeln und Kartoffelkleister mussten wir die Scheibe von außen befestigen. Geöffnet konnte das Fenster nun nicht mehr werden, höchstens durch Zertrümmern des Milchglases, um die trüben Lichtpartikel einzulassen, na, da hätte aber der Zwangsvermieter seinen Donnerkeil herabsausen lassen und der Gemeindeversammlung des ZIMMERS eine Predigt gehalten, bei deren Anhörung der Pastor Egidius ohne Verzug in die ewigen Jagdgründe eingefahren wäre, beschämt vor soviel alttestamentarischer Eloquenz und Baptisterei, rasselnd, mit trockenem Gemecker, einer Himmelsziege zu Angebet und Ehrfurcht, Amen.

Oh nein“, wimmerte Klöpper, „diese Schachtelsätze!“

Mir wurscht. Ich war jetzt in Fahrt.

Opa Karl, der alte Krauter, hatte sich in der Nordecke, im sogenannten Iglu, ein Schützenloch gegraben. Auf einem Klapphocker kauernd speichelte und krakeelte er die Vorüberhastenden an (die Wohnungssuchenden beschimpfte er als „Vaterlandsverräter“, „Fünfte Kolonne“ und „Dolchstoßlegionäre“). Mit von der Partie war mein Vater, der falsche Fuffziger, der gern den Lebemann spielte und mehr als einmal in Rufnähe von Bahía del Sol seinen Balzgesang („Komm in meine Liebeslaube“) anstimmte, um entweder Tante Almut oder Palastdame Elfriede zu betören, da kannte er keinen Unterschied, denn eine jede war ihm lieber als meine Mutter, die in die Westecke verbannt war.

Die Diagonale von West nach Ost zerteilte das ZIMMER als Achse des Bösen und vergiftete das Klima. Opa Karl aber, weltkriegsgestählt, mit Nahtodesgestank aus allen Furchen seiner ledrigen Greisenhaut, widerstand nicht nur der Achse des Bösen, sondern auch den Schneefällen, die durch die löchrige Decke des Iglus stoben ebenso wie eisige Winde und SOS-Notrufe aus den Polarmeeren, von denen Opa Karl hämisch berichtete. Mit der Verachtung für unsoldatische Jammerlappen teilte er munter aus: „Ha, nichts als Muttersöhnchen und kraftlose Weicheier! Auf ihren gestrandeten Seelenverkäufern göbeln sie über die Reling, bis der Darm vorn raushängt. Schon beim ersten Flatulenzgrummeln drücken diese Oberschüler die SOS-Taste. Wenn der Dünnschiss warm am Schenkel herunterläuft, darf man sich nicht zieren, sondern hat aufs Reich zu salutieren, hoch lebe Kaiser Wilhelm!“

Meine Schwester, deren Name Schall und Rauch in den Schatten stellte, schlupfte bei Mutter unter, die die Verbindung zur diagonal gegenüberliegenden Sonder- bzw. Ostecke hielt, in der ich, allein auf mich gestellt, meinen roten Ausschlag am Arsch, die Pusteln am Sack und den eitrigen Augenfluss mit Kuhpisse aus dem Stall des Bauern Lüders behandelte.

Dort in meiner Ecke, neben dem Vakanzbereich, hätte ich mir ein Automobil, einen VW-Käfer zuvörderst, gedanklich hineinquetschen oder -falten können. Doch der hätte sowieso nicht erworben werden können wegen der schieren Abwesenheit von Deutschmark, und nun kombiniere scharf: Was sollte die sich im Lebenskampf aufrubbelnde Familie plus die sich als Palastdame anheischende Fremdfrau in dieser Situation mit einer Garage anfangen?

Nix halt.

Jetzt sind wir da, wo ich von Anfang an hinblinzelte.

Denn dieser Zustand der Garagenlosigkeit verschlug meinen Lebensweg in eine andere als die von mir angestrebte Spur. Hätte ich eine Garage zur Verfügung gehabt, dann hätte ich dort, wie es überall üblich und praktisch Vorschrift ist, ein Start-up-Unternehmen gegründet, hätte Leiterbahnen und Prozessoren zusammengelötet, eine IT-Schmiede mit Potential auf weltweiten Zuwachs. Dann hätten Mr. Microsoft und Mr. Apple mit ihren klappernden Computerwitzapparaten blöde aus der Wäsche geschaut, hätten vor Not und Hunger vergammelte Dönerreste aus den Abfalleimern billiger Fressbuden klauben müssen, weil nämlich, jetzt pass auf, meine Person statt ihrer auf dem selbstentwickelten Rechner eine Software programmiert hätte, mit der die Zukunft als Ganzes durch die Decke geknallt wäre.

Zweifellos.

Und die Herren Microsoft und Apple hätten sich als Furz in der IT-Branche wiedergefunden.

Statt einer Garage spielte das ZIMMER seine Karten aus.


2.1 Vier Minus – Deutsch

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