„Apropos Nazisack“, wende ich mich wieder Klöpper zu, „den meisten unserer Lehrer klebte ja noch die Nazihaut auf den Gesichtsknochen. Vorher Widerstandskämpfer – ja was glaubst du – jetzt Vollblutdemokraten. So einer wie Omar-Sharif-Windisch war Ausnahme, praktisch Jungspund unter Altmitläufern. Ich kann sagen: Nochmal Glück gehabt mit dem Windisch.“
Klöpper glotzt mich an und schweigt.
„Ah, ich verstehe. Du überlegst die ganze Zeit, wer dieser Omar Sharif ist.“
„Mach weiter“, knurrt Klöpper.
Herr Krödel, unser Chemielehrer, Spitzname Pico, war so kurz wie breit und tief, ein menschlicher Würfel. Er trug einen Schmiss auf der Wange, schief angeordnet, so dass sein Gesichtsausdruck asymmetrisch in der Gegend herumhing. Pico, quasi noch aus schwärenden Weltkriegswunden blutend, führte uns vor, wie man einen Partisan erledigt.
„Von hinten anschleichen, mit der linken Hand den Kopf des Partisanen ins Genick reißen, während die rechte das Kampfmesser an die Kehle setzt und ordentlich schlitzt. Ratzfatz. Keine Gefangenen!“
Denn das bedeutete den eigenen Tod.
Worauf du Gift nehmen kannst.
Eine nicht weniger attraktive Aufgabe bot sich dem Einzelkämpfer. Eingegraben in einem Schützenloch hatte er auf heranrasselnde Panzer zu lauern, den Kopf eingezogen, Embryohaltung. Wir hielten den Atem an. Was würde der Chemieunterricht uns noch alles an Nervenkitzel und Todesangst zumuten?
Hinten rumste es: Eva Koslowski war in Ohnmacht gefallen. Auch Günter ‚Günni‘ Oltmanns japste sich in eine Besinnungslosigkeit. Beherzt stülpte ihm sein Nachbar Klaus Martens eine Brötchentüte über den Kopf, um die Schnappatmung zu unterbrechen. Mit Erfolg. Günni verschied, keine Ursache, R.I.P.
Bevor er uns an dem Panzergemetzel teilhaben ließ, erklomm Pico, der Nahkampfwürfel aus Schwert und Asche, die Ecke der vorderen Bank und ließ lässig ein Bein baumeln. Dort vorn hatte sich der Klassenprimus Adrian Schultze-Möcklinghaus breitgemacht mit seinen Büchern, Kladden, Lexika, Stiften und Markern, der Schleimer der, der Radfahrer, der Sausack stinkige, der schmierige Schweinehund.
Arschficker der.
Pico senkte seine Stimme: „Wenn der Panzer über dem Schützenloch stoppt, kannst du nur noch ein Halleluja singen. Denn dann walzt der Panzerfahrer das Ungetüm hin und her, die Ketten mahlen sich in das Loch, bis es zerrieben ist, bis unten nur noch Matsch glubbert, Menschenmatsch hoho. Damit musst du rechnen als Soldat! Aber das ficht den Einzelkämpfer nicht an, der muss den T-34 heranlassen, im günstigen Moment die Sprengladung anbacken und dann nichts wie weg, denn wenn man eine Sekunde zu spät loslief, wurde man selbst zerfetzt. Und das kann ja nicht Sinn der Übung sein.“
Wir stimmten zu. Das konnte nicht Sinn der Übung sein.
Mitunter sprang Pico flink wie ein Känguru auf das Pult: „Du musst permanent lauschen, orten, um dich blicken und darauf vorbereitet sein, dass der Feind unversehens von einem Baum herabspringt und das Bajonett in deinen Augapfel stößt.“
Wir hofften, dass er irgendwann Theorie und Praxis verwechselte und auf Klassenschleimer Adrian Schultze-Möcklinghaus herabspringen würde. Bis dahin mussten wir auf der Hut sein, denn Pico führte nach dem Zufallsprinzip mörderische Kampftechniken vor. Gerade noch schüttelte er beiläufig ein Reagenzglas, da griff er sich einen Schüler und nahm ihn in den Schwitzkasten. „So, was machst du nun?“, höhnte er. Der Schüler erstickte. „Aber so ist das auf dem Feld des Ehre.“ Ich und meine Freunde Erwin Cordes und Dieter Matuschke stellten uns der Herausforderung, schlichen uns von hinten an Pico heran, aber wie aus dem Nichts brüllte er „Attacke!!“, warf sich herum, zog ein Bowiemesser aus dem Wadenhalter, stieß es Erwin Cordes in den Bauch und rammte gleichzeitig seinen stahlnagelbewehrten Einzelkämpferstiefel in die Eier von Dieter Matuschke, der röchelnd hinwegging. Mit einen Todesfurz sagte Matuschke der Nachwelt ade.
Im Winter badete Pico in einem Eisloch draußen im Stadtsee. „Wenn du nicht abgehärtet bist“, erklärte er uns das Periodensystem der Elemente, „dann gute Nacht. Wundere dich nicht, wenn dir in Stalingrad der Arsch abfriert. Der Iwan aber kennt keinen Frost, und die Kalaschnikow feuert noch bei minus 40 Grad Celsius.“
Nach der mündlichen Prüfung erhielt ich eine VIER MINUS in Chemie.
Meine fest verplante Karriere als bedeutender Chemiker, das zweimal für den Nobelpreis nominiert wird, versandete in meinen chemischen Forschungsarbeiten, die darin gipfelten, Partisanen die Kehle zu durchschneiden, Panzerfäuste abzufeuern, in Schützenlöchern zermatscht zu werden und abschließend in Stalingrad zu erfrieren, nachdem der Iwan mir mit einer AK-47 den Bauch durchlöchert hatte.