Bedingungen, die Existenz betreffend

Bedingungen, die Existenz betreffend

Es gibt sie noch, Leute, die es gar nicht gibt. Deren Existenz futsch ist.

Nehmen wir Igor, einen meiner Weggefährten aus der Zeit, als man einen sog. Kassettenrekorder auf der Schulter trug, aus dem blecherne Musik und Bandsalat quoll. Igor kam aus Kasachstan, ein Kasache ohne Wenn und … »Russlanddeutscher« stellte er nachdrücklich klar, wobei er die Betonung auf »Deutscher« legte und das Kasachische gegenüber seiner Deutschheit praktisch ins Abseits pfiff.

Genehmigt. Bloß, sein Vorname. Der war ihm ein steter Juckepunkt und Erinnerungsmakel, bis er die Nerven verlor und seinen Namen in ruchloser Verleugnung seiner Herkunft umändern ließ. In Egon.

Dieser Vorgang löschte aber noch nicht seine Existenz aus. Sondern rief erst mal Heiterkeit bei uns hervor. Wir stichelten eine Zeitlang über seinen coolen Namen, und einer von uns, ich glaube, das war sogar ich, kramte einen alten Schlager aus dem Mottenmief: »Ach Egon Egon Egon, ich hab ja nur aus Liebe zu dir, ein Glas zu viel getrunken« (Wehmut tropft in mein Gemüt: Waren die Texte früher nicht viel griffiger als das Gequalle unserer heutigen Volxmusikanten?).

Jahre später. In einem Anfall von Sentimentalität wollte ich wieder Kontakt zu Egon aufnehmen. Erinnerungen auffrischen, alte Fotos tauschen, so was. Aber der Deutschkasache war abgetaucht. Bei Google: Fehlanzeige. Facebook, Twitter und Instagram: Null. Telefonbücher: Kein Eintrag. Keinerlei Hinweise. Gibt es das überhaupt? Wo bitteschön finde ich die viel beschworenen Datenlecks, an die ich mich im Notfall wenden kann? Wo ist er denn, der gläserne Bürger?

Egon ist weg. Und damit bin ich wieder beim ersten Satz. Wer keine Spuren hinterlässt, der existiert nicht (Heinziadische Weisheit). Quatsch, sagst du, wenn der man nicht mit neuer Identität (»Erwin, der Schreckliche«) Karriere macht. Oder als Bauchredner in einem Unterwasserzirkus auftritt.

Igor/Egon/Erwin dreht also den unersättlichen Suchmaschinen eine Nase. Wer verschwinden will, braucht offenbar nur seinen Namen zu ändern. Ein Versuch ist es wert. Dann guckt das Internet in die Röhre, das Datenleck leidet unter Verstopfung, und die Existenz ist futsch.

Euer Wladimirowitsch

(Friesländer Bote, 24.12.2020, letzte Seite)

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