Aus der Alpensaga Im Schatten des Watzberges
Eine Nacherzählung
Marlene Kaltenfussel hatte noch Zeit. Ein Geräusch hatte sie aus dem tiefsten Schlaf geholt, eine Art Schlurfen oder Rascheln, aber schlaftrunken wie sie war, gab sie nichts darauf. Der Reisewecker würde ohnehin gleich zu Piepen anfangen. Da wurde sie aus dem Hotelbett gerissen und grob auf die nachtwarmen und noch schlaflahmen Füße gestellt.
„Sind’s die Schubiake, um mich zurückzubringen?“ rief sie angstgesättigt, während sie nach einem Halt tastete. In dieser Frühe war es noch finster, kein Lichtstrahl furchte durch knapp gespreizte Jalousienlamellen, keine trübe Birne an der Stuckdecke, kein aufflammendes Zündholz, welches, fahrig hierhin und dorthin flackernd, von zitternder Hand geführt wurde. Ein modriger Hauch fuhr um die Wehen der Marlene Kaltenfussel bzw. wehte um ihre Fuhren, oder genauer gesagt, fuhrte wehend in ihr Nasengehöcker. Entsetzt wich sie zurück. „Der Gestank des Robiniak!“ gellte sie, „der Odem des alten Hauzahns, desjenigen mit dem schwarzumrandeten Fuß!“
Keine Antwort, nicht einmal ein Schnaufen. Dafür eiserne Bizeps, die die Schrumpelbrust der Marlene quetschten, nicht zulassend, dass sie nach Luft schnalzen konnte, lediglich ein Pfeifen aus gepresstem Lungenödem. Das rasselte. Man könnte einen Vergleich anstellen zur Veranschaulichmachung des Geräusches aus gequälter Folterbrust, man könnte das Kettenscheppern eines Panzerfahrzeugs als Beispiel heranziehen oder das Ratschen, wie wenn zwei rostige Eisenplatten von unsichtbarer Hand aneinander gerieben würden, oder vom Husten eines Dieselmotors könnte man parlieren, mit Fehlzündungen, die frisch in den Nebel knattern. Doch alle Metaphern versagen angesichts des Ungemachs, welches die Marlene hier im Reise- und Durchgangshotel auf halber Höhe des Watzberges ertragen musste. Zur Umklammerung kam ja als Zweites der Knebel, ein vorweg klebrig eingespeicheltes Wollknäuel, das unzart zwischen die Zahnreihen der zur Entführenden geschoben ward. Und es folgten als unumgängliche Marterung und Sicherstellung des Opfers die Ohrstöpsel, gewonnen aus dem Kleister der Kartoffelstärke, geschmeidig gezwirbelt in die Form glattbäuchiger Zwiebelchen. In die Ohrgänge der Marlene wurden die Preziosen hineingezapft, mit obszöner Begleiterklärung, und Marlene, von da ab taub und stumm und geknebelt, erwartete gar nichts mehr.
Welch Fehl in der schon abgeschlossenen Hoffnungslosigkeit!
Denn ein Viertes wurde vom grausamen Robiniak in Rechnung gestellt, und ja, kein anderer als der alte Hauzahn mit seiner vergleichlosen Ungüte war es, der hier werkte. Ein Viertes also sollte den Handlungsstrang krönen. Dieses Vierte aber war nichts Bedenklicheres als das Einträufeln einer schwer durchschaubaren dünnflüssigen Substanz, und die Transfusion sollte wie immer ohne Tadel anstellig ausgeführt werden!
An diesem Punkte jedoch, just nach dem vorhergehenden Komma der Nacherzählung, sprang der Sekundenzeiger des Reisenweckers auf die vormarkierte Stelle, und es schrillte das Wecksignal auf wie Fanfarenstoß und Kriegsgeheul. Gleichzeitig stießen auch in den anderen Zimmern des Flures die Wecker ins Alarmhorn. Denn was der grausame Schubiak nicht auf seinem Spickzettel notiert hatte, ging soeben als die Saat der Überraschung auf: 50 Ältliche vom Klan der Huberer hatten sich vortags einquartiert, und alle hatten akkurat ihre Wecker sekundengenau auf den gleichen Zeitpunkt gestellt. Wie von Dirigentenhand geleitet erhob sich ein Oratorium der Glöckchen, Piepser, Klingeln, Ratschen, Pfeif-, Quak-, Jaul- und Rasseltöne, ein Rascheln und Husten, ein Fensterlüften, ein Rauschen von 50 Toilettenspülungen, ein Klappern von 50 Zahnputzbechern, ein allerseits An-die-Wändeklopfen und Türaufstoßen und Fraternisieren, und dies zusammen bedeutsamte die Rettung der Marlene Kaltenfussel, geb. Huberer, geschiedene Schubiak. Haargesträubt wich der Robiniak, der alte Hauzahn, vor dem Inferno zurück und kopfstürzte paniklich aus dem Fluchtfenster. Buchstäblich auf den Sekundenschlag wurde die Marlene gerettet. Und noch viele Tage danach wurde sie von den Ältlichen aus dem Huberertal befürsorgt, abgestreichelt und mancherlei beglückwunscht.
„Und was hat das mit deinen Lebenserinnerungen zu tun“, frug der Klöpper ums andere Mal.
„Ist mir wurscht“, beschied ich ihn, ebenfalls um das andere Mal. „Ist mir alles wurscht. Brauchst es ja nicht zu lesen. Oder meinetwegen: Schwärz doch die Zeilen, die dir nicht zupass kommen. Soll mir recht sein. So hat ein jeder das, wonach ihm gelüstet, und der Wohllaute sind Legion.“
Klöpper raschelte. Von Wohllauten keine Spur.