Ich komm nicht voran. Wenn ich weiterhin die bübischen Erlebnisse meiner Schulzeit und die unserer Schülerband ausbreite, verliere ich meinen Kompass und verfehle mein Ziel, was da wäre, die Ausweglosigkeit eines fest umrissenen Daseinsentwurfes darzulegen am Beispiel meines Irrens und Versagens durch die verschiedenen Stadien und Frakturen der mir zugeeigneten Lebensläufte.
Wiewohl.
Wiewohl die Zielverfehlung der Ausweglosigkeit formgenau in den Frack schlüpft.
Trotzdem.
Trotzdem überspringe ich das sich offenkundige Anbahnen des Schülerlebensdesasters und erinnere an meinen Entschluss, die Lehrerlaufbahn anzustreben.
Um es gleich zu sagen:
Mit dem Lehrerdasein kam ich nicht zurecht. Meine Lehrerlaufbahn begann mit der Aufnahme des Pädagogikstudiums und endete nach zwei Semestern. Wenn man angehende Lehramtsstudierende fragt, warum sie unbedingt Lehrer werden wollen, sagen sie: „Weil ich es besser machen will.“ Bei Aufnahmegesprächen werden angehende Lehramtsstudierende gefragt, was sie am Unterricht in ihrer Schulzeit gut gefunden haben. Sie sagen: „Nichts.“ Oder: „Nicht viel.“ Oder: „Der war nicht realitätsbezogen.“ Oder: „Meine Lehrer haben mein Interesse nicht geweckt. Der Unterricht war langweilig, unflexibel, stur nach Lehrbuch.“ Wichtigtuer unter den angehenden Lehramtsstudierenden unterstreichen ihr Lehramtsinteresse durch die Benutzung von Fachjargon. Sie sagen „Die Lehrer haben mich nicht da abgeholt, wo ich war. Sie haben meine intrinsische Motivation untergraben.“
Erst nach diesen Auskünften wird die – von mir hier verfrüht eingeschobene – Frage aufgeworfen, warum sie Lehrer werden wollen.
Der angehende Lehramtsstudierende ist auf der Hut. Er wird nicht sagen: „Weil ich als Lehrer nachmittags frei habe und 10 Wochen Ferien abfeiern kann oder sogar 12 Wochen, noch besser.“ Der angehende Lehramtsstudierende ist schlau. Er sagt nicht: „Weil ich das schlechteste Abiturzeugnis unseres Jahrgangs hatte und nichts anderes studieren kann.“ Er sagt auch nicht: „Als Lehrer werde ich verbeamtet und privat krankenversichert. Von dem Gehalt kaufe ich mir ein Wohnmobil und fahre in den Ferien nach Kreta oder nach Sizilien, wo ich faul in der Sonne liege, mich bei Rotwein und willigen Weibern amüsiere und auf das Lehramt scheiße.“ Nein, das sagt er nicht. Er sagt: „Weil ich noch Ideale habe im Gegensatz zu vielen anderen, zu den Ausgebrannten. Deshalb will ich den unbeliebten Job als Lehrer auf mich nehmen. In den Ferien bilde ich mich weiter und buche Kulturreisen nach Usbekistan oder in die Mongolei. Ich will es besser machen als meine Lehrer.“ Er deutet an, dass er auch umsonst unterrichten würde und begründet dies mit seiner Liebe zur Jugend und seiner sozialen Verantwortung.
Der angehende Lehramtsstudierende ist ein guter Mensch.
Wenn meine Kommilitoninnen, die eingeschriebenen Lehramtstudentinnen, in der Mensa ein Kind sahen, glucksten sie hormonell aufgeladen. Vielleicht greinte dort das Kind eines Professors oder des Hausmeisters oder einer Studentin, allein erziehend, aber so was gab es damals noch nicht, ich erinnere, es geschah in den frühen Jahren der Republik.
Die eingeschriebenen Lehramtstudentinnen bezeugten durch entzückte Ausrufe, dass sie dem Kind zugetan waren und für den Lehramtsberuf geeignet: „Tüddi Tüddi.“ Alle Kinder hießen „Tüddi Tüddi“. Wenn kleine Kinder durch die Mensa stolperten, und das kam vor, wandten sich die eingeschriebenen Lehramtsstudentinnen von ihren Kohlrouladen oder vom serbischen Reis ab und riefen verlockend „Tüddi Tüddi.“
Als ich in der Mensa zum ersten Mal das „Tüddi Tüddi“ hörte, verschluckte ich mich am Serbischen, reiherte das Tüddi-Kind mit Reis und Rotz voll und war von da an unten durch, ein Pädagogikmonster, ein Lehramtssabotierer, ein Kinderhasser. Dennoch ließ ich von meinem stählernen Entschluss nicht ab, das Studium rasch durchzuziehen, um hernach eine Beamtenstelle zu ergattern mit freien Nachmittagen, 12 Wochen Ferien, privater Krankenversicherung und einer Wohnung mit Balkon, wo ich meine Erinnerungen an meinen Deutschlehrer, Besorger hitziger Weiber und Korntrinker Windisch schweifen lassen konnte.
Nein, ein „Tüddi Tüddi“ konnte mich nicht davon abbringen, die Mensa aufzusuchen.
Manchmal ging ich auch zu Vorlesungen statt in die Mensa. In einer Soziologievorlesung behauptete der Professor, dass wir alle Rollen spielten. Das war mir neu. Ich war kein Schauspieler und wollte auch keiner werden. Ich versank in tiefes Nachdenken. Die Rolle eines Lehrers in einem Film über eine rabaukige Schulklasse hätte ich mir denken können, aber ich wollte ja kein Schauspieler in der Rolle eines Lehrers werden, sondern ein echter Lehrer, einer mit Pensionsanspruch. Vielleicht hatte ich mir falsche Vorstellungen gemacht.
Der Stachel saß.
Im zweiten Semester brannte mir das „Tüddi Tüddi“ ein Loch in den Sack. Ich haute ab. Ich habe mich noch nicht einmal exmatrikuliert. Ich glaube, ich bin immer noch eingeschrieben, 102tes Semester oder so.
Das „Tüddi Tüddi“ hatte mich in die Flucht geschlagen und meine beabsichtigte Lebensplanung durchkreuzt. Heute sind die Studentinnen taff. Sie küssen (mit Zunge und allem drum und dran) in der Mensa und auf den Fluren ihre Freundinnen oder Betthäsinnen und begrabschen sich ungeniert. Kein Vergleich zu früher. Wenn heutige Studentinnen draußen auf dem Rasen Mütter sehen, die mit ihren Kinder spielen, rufen sie ihnen spöttisch zu: „Na, Tüddi Tüddi?“ Sie zeigen den Stinkefinger, wenn du ihnen auf die Beine guckst. Wenn du nicht aufpasst und auf die Beine einer Studentin guckst, siehst du dich in den sozialen Netzen als #MeToo-Delinquent wieder und wirst als Sexualtriebtäter geshitstormt. Guckst du heute als Lehrer auf die Beine deiner Kollegin, kannst du schon mal deine Zahnbürste für den Knast einpacken. Heutzutage auf die Beine deiner Schülerinnen zu gucken, wie seinerzeit Deutschlehrer Windisch, und vom Besorgen hitziger Damen zu referieren, bringt dich auf die Guillotine. Die wird extra dafür wieder aufgebaut.
Garantiert.
Ach, solch Zustände hätte ich mir schon damals gewünscht. Dann wäre ich Lehrer geworden. So aber hat mir das „Tüddi Tüddi“ … es kommt eben wie es kommt.
An dieser Stelle sollte der unerwünschte Kommentar von Klöpper stehen. Aber Klöpper ist nach Hause gegangen.