13 Die Klöten

13 Die Klöten

​Der alte Bultmann – ich nenne ihn alt, da er dem Augenschein nach etwa 15 bis 20 Jahre älter als seine Frau sein musste und bereits in Rente war – der alte Bultmann schlurfte den ganzen Tag über im gleichen Aufzug durchs Haus und über die staubige Auffahrt, wenn er die Post vom Briefkasten vorn an der Straße holte. Auch an Sonntagen zog er sich nicht um, schlüpfte nicht aus seinem Bademantel, der irgendeinem textilen Zweck diente, nicht aber, um seine Klöten zu bedecken. Dafür war der Lappen zu kurz. Denn der obere Teil einschließlich der zerrissenen Gürtelschlaufen reichte knapp bis zum Bauchnabel. Der Rest war abgebrannt. Wörtlich. Kein Jux. Weggekokelt. Vermutlich bei einem Küchenbrand, ausgelöst durch Bultmanns Kochkünste, die sich nicht darin erschöpften, volle Suppentöpfe auf den Boden zu schmeißen, sondern auch Bratkartoffeln, Schweinekoteletts und Nudelaufläufe mit einem handlichen Schweißgerät zu flambieren.

Das Schweißgerät war wie fast alle Werkzeuge im Haus Diebesgut. Darauf komme ich noch.

Aus dem unteren Teil des Mantels, quasi Zweiteiler, flatterte müde seine Unterhose, gilb-graues Feinripp, verwaschen, ausgeleiert, und aus einem der beiden Hosenbeine hing der Hoden des Hausherrn, schlaff schlackernd, alttestamentarisch behaart. Angesichts dieses Sinnengenusses wollte ich nicht glauben, dass mein Vermieter früher als hohes Tier bei einer Versicherung ein beträchtliches Einkommen generiert hatte, als Abteilungsleiter oder Vorstandvorsitzender oder Generalvertreter, was weiß ich, die Bande da oben sprach immer nur vom Direktor. Wenn ich von der Bande spreche, meine ich zum einen seine Frau, die sich gegen Mittag aus dem Bett wälzte, einen ebenso fleckigen Bademantel wie der ihres Mannes überwarf (ohne Brandlöcher) und über den Dreck in der Wohnung schimpfte, warum das Essen noch nicht auf dem Tisch stehe und dass schon wieder keiner aufgeräumt habe. Den anderen Teil der Bande besetzten die drei Söhne, seit Geburt an auf dem Pilgerpfad in die Kriminalität. Insgesamt eine Brut, die den Hausherrn wohl zu dem gemacht hatte, wovon er sich in jungen Jahren nicht hätte träumen lassen. Mich beunruhigte die Parallele zu meinem Lebensweg, der von verpassten Chancen gezeichnet war, mein Gott, ich werde doch nicht enden wie der da, in einem verschmorten Bademantel über einer Unterhose, aus der die Klöten baumeln, wird es so weit kommen?

Brühend heiß wie die Suppentropfen von der Decke meines Kellerlochs durchfuhr mich dieser Gedanke. Ein Warnsignal? Ein Fingerzeig?

Noch war ich in Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben. Oder Soziologie?

Neben dem täglichen Studium der Ökonomie (Soziologie?) in der Mensa spielte ich weiterhin E-Gitarre. Bei „HOWLING TIGER AND THE HAMBURG ALLSTARS“ ging nach der Verhaftung des Sängers bald nichts mehr. Mit dem neuen Sänger flogen wir ja überall raus. Ich stieg in eine Beatband ein, deren Drummer und Bandleader namens Knut Schmidt ein riesiger Fan von „Johnny Kidd & the Pirates“ war. Er sammelte alle Platten der Band, alle Fotos, alle Zeitungsausschnitte, kannte alle Texte auswendig, alle Tournee- und Lebensdaten und verwandelte sich zusehends in eine Kopie des Johnny Kidd von den Pirates. Sogar die schwarze Augenklappe über dem rechten Auge legte er sich an, wie sein Idol. Seine Sprechweise kauderwelschte in einem Pseudoenglisch, seine Haltung verkümmerte zu einer Spiegelung des Fotos auf dem Plakat, das in seinem Zimmer über dem Bett hing. Als Pflichtstück, Zentrum und Gipfel allen musikalischen Schaffens pfefferten wir mindestens 20-mal am Abend „Shakin‘ all over“ aus den Vox- und Fenderverstärkern, und auch alle anderen Stücke von Kidd dem Johnny mussten wir einüben. Im Nachhinein fällt mir auf, dass unser Programm einzig aus diesen Stücken bestand, deren Titel mir aber entfallen sind ebenso wie unser Bandname, irgendwas mit Pirates, vermutlich „Johnny Schmidt & the Pirates“.

Zu Hause in meinem Kellerloch beobachtete ich den zunehmenden Verfall der Familie Bultmann, vorzüglich dargestellt, aber nicht nur allein, an Heiko Bultmann, dem ältesten Sohn.

Doch bevor ich mich in das Milieu von Kleinkriminalität und Gewalt wuchte (dies erfordert das Abfassen eines zusätzlich Kapitels), muss ich erwähnen, welche Windungen meine Lebensplanung bereits eingeschlagen hatte, ein allmähliches Rutschen und Stolpern in eine willenlose Leere. Meine ökonomischen Studien in der Mensa, unterbrochen ab und an durch den Besuch von zwei oder drei Wirtschaftsvorlesungen (Soziologie? Wer weiß das schon), ergänzte ich im Sinne des dualen Studiums durch Expeditionen in den Star-Club, Reeperbahn, Große Freiheit. Abstecher in die Herbertstraße dienten der Ertüchtigung moralischer Vorbehalte.

Im Star-Club traten alle damals angesagten Beatbands auf, Spooky Tooth, Vanilla Fudge, Cream, Jimi Hendrix, Spencer Davis Group mit dem jungen Steve Winwood und wie sie alle hießen, die Liste geht ins Unendliche, führt in den Himmel der Beatseligen. Soul, Rock und Bluesrock lösten den Merseybeat ab, und Wahnsinns-Bluesgitarristen aus Britain wie dieser Stan Webb von Chicken Shack nagelten mich bis weit nach Mitternacht vor der Bühne fest, links, wo die Groupies auf ihre unter sich ausgelosten Musiker warteten neben den Losern, die sich 5 Stunden an einer leeren Bierflasche festhielten, mit gierigen Augen, oft fassungslos vor Staunen und Bewunderung.

So wie die Bühnenhelden wollte ich werden!

Da war es wieder. Das Abdriften von meinem notdürftig durch Mensastudien aufrecht erhaltenen Lebensziel als Wirtschaftsboss oder Vorstandsvorsitzender einer Aktiengesellschaft – eine außerirdische Phantasie, die vor meinem Auge flirrte, ein Phantom, eine Fata Morgana, eine hohle Blase.



14 Der Kürassier von Monte Malo

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