Tabea ist ein Junge

Tabea ist ein Junge

»Tabea ist ein Junge!«, schepperte es aus dem Hörer, kaum, dass ich ihn abgenommen hatte, »jedenfalls ist sie davon überzeugt, und ich kann doch als Mutter nicht die Gesetze der Natur verleugnen.« Das Scheppern nistete in meinem Ohr wie ein Kuckucksei im Meisennest, blähte sich, explodierte und gebar ein sirrendes Fiepsen, da hatte ich den Salat, sprich den Tinnitus, ausgelöst durch das Kreischen von Susanne, Kuscheltherapeutin, Alleinerziehende.

»Moin auch«, sagte ich, nachdem ich den Hörer ans linke Ohr platziert hatte. »Was Moin!«, kam es zurück, »ist das alles, was du zu sagen hast?« Wenn es um Susannes Tochter Tabea geht, habe ich nur eine Chance auf einen friedlichen Fortgang des Gesprächs: alles zugeben, gutheißen, mit Lob und Bewunderung nicht sparen – wie heißt gleich das Fremdwort dazu, ach ja, anschleimen. »Die arme Tabea«, gurrte ich, »ist wenigstens ihr Hochbegabtenstatus anerkannt worden und ihre Unterforderung im Unterricht?« Natürlich Quatsch, Tabeas schlechte Noten hatten andere Gründe.

»Lenk nicht ab«, rief Susanne, »jetzt endlich hat die Regierung die eigenständige Geschlechtsbestimmung freigegeben, was glaubst du, was Tabea die ganze Zeit ahnte, fühlte und erleiden musste?« Ich ahnte, fühlte und erlitt es. »Sie steckt im falschen Körper! Ich sage dir, sie muss ihr Geschlecht berichtigen, sonst geht sie psychisch zugrunde. Sie könnte auch transsexuell sein, man sieht es ja leider nicht. Und ganz heikel: Ihr Freund Paul weiß noch nichts davon. Vielleicht ist Paul in Wirklichkeit ja schwul, dann wäre wieder alles im Lot, nach Tabeas Geschlechtsumwandlung.«

Jetzt pfiff es auch in meinem linken Ohr. »In der Schule haben sich schon zwei Leute geoutet«, schepperte Susanne ungerührt weiter, »die wollen sich hormonell behandeln lassen und das alles. Tabea fühlt sich allmählich wie eine Außenseiterin, alleingelassen im Schmerz.« (Seufz, Schluck, Kleenex) »Die Arme«, schleimte ich, »ihren Namen muss sie ja auch ändern, in Thor oder Titus oder Wotan, wie ihr Vater, sonst wird sie von den anderen gehänselt.«

»Hast du gehänselt gesagt, du Grotte? Das heißt heute gemobbt. Aber recht hast du. Justin wäre cool, wie der Bieber.« Oder Shaun, wie das Schaf. Rudi, wie das Rentier. Kermit, wie der Frosch. Oder Heinzi, wie

Euer Heinzi

(Friesländer Bote, 16.07.2022, letzte Seite)

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