Warnemünde hatte ich offenbar zur falschen Zeit besucht. Rentnerrotten auf der Promenade gingen ja noch, aber die AIDA verpassen? Denn die AIDAS (AIDEN?) steuern nur im Sommer Warnemünde an. Dort feuern sie, wie der Name verrät, ein Feuerwerk ab im Angesicht staunender Touristen mit ihren leuchtenden Kinderaugen. »Sieh nur, wie es leuchtet!«, rufen sie und entledigen sich all ihrer Aah- und Ooh-Rufe. Zur falschen Zeit in Warnemünde weilen heißt also auch: Abendliche Feuerwerke zu verpassen. Über die Enttäuschung nicht aufgeleuchteter Kinderaugen will ich gar nicht erst reden. Um wenigstens einen Nachgeschmack, hier Nachhall, von Ooh- und Aah-Rufen anzudeuten, stelle ich zwei Fotos des AIDA-Feuersturms vor, die ich 2004 schoss, zur richtigen Zeit.


Jetzt aber zur Gegenwart, 2017, Ziel Warnemünder Strand, Seele baumeln lassen, Dorsch mampfen, Füße in die Ostsee tunken, Rostocker Doppelkümmel hinter die Binde kippen, Leuchttürme glotzen, entlang des Stroms stromern, maritimes Ambiente schlürfen und das alles. Schon dem ersten Eindruck gelingt es, mich ins Ostseeische zu versenken. Ein Hauch von Werft schwebt über dem Großen & Ganzen, aber auch ein urbanes Ahnen liegt in der Luft, salzig wie Sardellenpaste & eingelegte Kapern, Pökelhering & Cracker zur Fernsehzeit.

Der zweite Blick – die Nacht schwenkt bereits ihre Schatten über Strand und Promenade – offenbart blanke Bänke in trostvoller Reha-Optik, nun wieder jungferlich, doch morgen erneut besamt von den Hosenböden der Rentnerschwärme.

Später, in der Fressmeile »Am Strom«, ergattere ich einen Restplatz in einem französisch sich gerierenden Gasthaus (Verfallsdesign des 20. Jh., staubtrunkene Einrichtungsrelikte als da sind franz. Zeitungsschnipsel, gilbe Schwarzweiß-Fotos von Edith Piaf, Musettegejodel & Bandoneongequietsche aus geriatrischen Lautsprechern, harsche Weibsbedienung mit Frisur im Eiffelturm-Look). Kaum habe ich mich folkloristisch eingelebt mit „Alors“- und „Á votre santé“-Rufen, da serviert mir die Franzfrau ein hübsches Stück Haute cuisine: Das georderte Bauernfrühstück mit Dorsch entpuppt sich als halbmondförmiger Eierkartoffelfischklumpatsch, geschmacklich changierend zwischen Papp-Haschee, Kartoffelkretin, Fußsalbe, tofuaffinen Fischbröckchen und Qualm, der, wie mein rechter Fuß mir berichtet, nicht aus dem franz. Gericht steigt, sondern aus der Heizung in der Fußbodenrinne, wobei die Ausdünstung meiner angesengten Socke sich erbarmend über den Geruch der dem Klumpatsch sich schaufelnd ergebenen Rentner und Rentnerinnen legt, Gottes Gnade ist unermesslich..
Meine Herren! Der Franzos und die Warne, eine Fügung.
Abweichung Eine kulinarisch vergleichbare Offenbarung wucherte im vorigen Jahrhundert im heimatlichen Varel zu Kult & Drei-Sterne-Vision. Im Schnellrestaurant »Domino« reichte man die ›Türkische Bratwurst‹, eine Currywurst mit türkisch sein sollendem Geschmack, obendrauf muslimische Petersilie. Das Domino: ein frühes Kalifat in Friesland.
Ach, und bei einem oldenburgischen Chinamann konnte ich einmal Grünkohl mit Soja-Buletten schmausen. Als Nachtisch und Schadensbegrenzung bekam ich einen extra scharfen Hustenbonbon. Ende der Abweichung
Weitere Beispiele der Warnemünder Durchtriebenheit konnte ich am nächsten Tag beäugen.


Endlich am Strand, die Füße ins eisige Wasser, brrrh. Kommentar eines sächselnden Warnemünders: »Als Kind war ich mit der Pioniergruppe Ernst Thälmann hier, Ferienlager. In der Früh mussten wir alle in die kalte Ostsee. Keine Ausnahme! Und der Brigadeleiter (oder sagte er Oberbefehlshaber? Comandante? Führer?) sprang immer als Erster hinein. Ein Vorbild, wie er im Buche steht!«
Das waren gute Zeiten.
Ich halte dagegen: Als Kind war ich bei den Pfadfindern, Wölflingsrudel, kurze Lederhose, bei 10 Grad Minus in der Jurte übernachtet, im Schlafsack eingefroren. Auch der Leitwolf in kurzer Lederhose. Ja was denn, keine Ausnahme! Der ist immer als Erster erfroren. Vorbild pur.
So. Typisch Wessi. Dem Ossi mal wieder zeigen, wo der Dampfhammer hängt. Bloß: Das habe ich nur so in mich hineingedacht. Ich war gar nicht bei den Pfadfindern. Kurze Lederhosen habe ich verabscheut. Die sind mir bis heute zuwider ebenso wie Konstantin Wecker und 1000-seitige Romane. Und Götz Alsmann.
(Hier kannst du selbst ausfüllen, was mir noch zuwider ist: ………………………..)
Der Pionier war übrigens kein Warnemünder, sondern einer aus Leipzig. Seit 17 Jahren zum ersten Mal Urlaub. Da konnte ich nicht mithalten.
Gut, Warnemünde und sächselnden Pionieren zum Trotz gelingt es den einwohnerisch verkleideten Personen hier, kregles Leben, 5D-Welten und Edelbistros hinzuzaubern, zur Not auch mal tote Hose.




Und doch, am Ende des Tages entschädigt mich dieser Ort mit einem Panorama im Stil altniederländischer Meister.
Hier hat die wunde Seele hat ihren Topf gefunden. Die wimmelnden Fischverkäufer, Kellner und Gedönsanbieter aber nennen es bescheiden: Warnemünde.