„Von Kunst kann man nicht leben.“ An mich waren Vaters Worte adressiert. Kurz danach brach sein Auge. Alle am Sterbebett wandten sich mir zu, eine Phalanx der Anklage: Mutter, Tante Almut, Fremdfrau und Palastdame Elfriede, die zum Sterbegucken aus Hildesheim angereist war, meine Schwester (deren Name wie Schall und Rauch … halt, da fliegt er herbei, ‚Elli‘, Schmuseform von Eleonore, Elli hieß meine Schwester, ist das nicht schön?), meine Schwester Elli also beugte sich über die Leichenlinnen, daneben verstockt ihr Ehemann Nr. 2 Roderich-Wotan mit den ungleichen Zwillingen Noel und Joel (man munkelte, dass die Brüder von verschiedenen Müttern abstammten, mehrfach fiel der Name der Palastdame).
Am Kopf des Bettes zerfiel unser Pastor Egidius, der mürbe Ganove, ewig schwärender Vorbote des Todes, der im 90sten steckte und im hohen Alter zur Schwerenöterei neigte, ein Geilbock, der bei jedem vorbeiflatternden Rock einen schmutzigen Spruch durch seine Zahnlücken sabberte, eine Zote, die wie der erkaltende Pfiff eines lecken Wasserkessels erschlaffte (wörtliche Zitate würden hier die Totenruhe stören).
Egidius übernahm die Anklagevertretung. „Junge“, krakeelte er um sich nässend, „geh in die Welt und pack es an. Segelschiff, so was. Weiber warten auf dich, draußen am Kai. Oder Fremdenlegion, auch gut.“
Mutter fuhr ihn an: „Hier geht es um Kunst, Pastor Egidius. Da, der Elgar will sich als freier Künstler herumtreiben! Dieser Wunsch war ja wohl der letzte Sargnagel von Vater unser, der du bist davongegangen. Womit haben wir das verdient, heh? Wo wir uns aufgeopfert haben, bis dass die Knochen kalken. Der Taugenichts wird unsere Familie in Sack und Asche ruinieren, weil er sich in die Fesseln der Brotlosigkeit werfen will. Meine karge Witwenrente wird er bis aufs letzte Hemd verschleudern für Schund, Schluderleben und Bohéme.“
Einschub
Jetzt ist es raus: Meinen Namen Hans, wer immer mir den gegeben hat (meine Eltern verneinten es vehement), hatte niemand jemals ausgesprochen. Vielleicht der Pastor bei der Taufe. In meiner Erinnerung sprach mich jeder mit Hansi an. Hansi, Kanarienvogel, Piepmatz. „Das haben wir nicht gewollt“, beteuerte mein Vater und verriet ungewollt, wer an dem Verbrechen schuldig war. „Für uns“, duselte er ein um das andere Mal, „bist und warst du immer nur der Elgar.“ Und Mutter streichelte mir die Wange: „Unser Elgar, gell? Unser ein und das andere Mal.“
Ende des Einschubs
Von der Rede Unsinn meiner Mutter angestachelt hämmerte nun auch Roderich-Wotan, Ellis zweiter Ehemann, auf die angeheiratete Verwandtschaft ein: „Nichtsnutz der, den sollte man einweisen. Früher bei Adolf …“ Ein Röcheln unterbrach seinen anschwellenden Wutgesang, vom Sterbebett kam es, vom wieder erwachten Vater, ein schwacher Hauch. „Sieg Hei …“ Sein rechter Arm zuckte, wollte sich heben zum Gruß. Die Sterbedecke hinderte ihn, eine bleierne Grabplatte auf dem abgemagerten Arm. Mit einem „Hansi …verdamm …“ fiel der Körper zusammen, endgültig.
Ich beschloss, Lehrer zu werden. Ein Beruf, den ich seit meiner Schulzeit verachtete. Die aufbrausenden Anklagen der Kondolenzpolonaise an Vaters Bett, die mir kübelweis die Schuld an seinem Tod in die Schuhe schoben, erschütterten meine Zukunftspläne dermaßen, dass ich mir den eingeschlagenen Weg Richtung Montmartre aus dem Kopf schlug.
Vor meinen Augen zog ein Leichenzug vorbei: mein verpasster Lebenslauf als freigeistiger Kunstschaffender, eingehüllt vom Schnapsgeruch, der jetzt durch die Sterbestube defilierte.
Klarer Korn.
Leichentrunk.