Tigerspinne

Tigerspinne

»Bei euch wäre es natürlich undenkbar«, sage ich. Onkel Paul raschelt mit der Zeitung. Tante Margret schaut kurz und unaufmerksam zu mir rüber.

»Hier steht«, sagt sie, »dass ab Montag Käsewoche beim Supermarkt ist, hörst du, Paul?« Onkel Paul steckt seinen Kopf in die Politikseite.

»Ich sagte«, sage ich, »dass es bei euch undenkbar wäre.« Pauls Schädel steigt über den Zeitungsrand empor, ein halber Mond, die Augen wässrig in den Winkeln. Die beiden Alten können bis heute ihre Enttäuschung über mich nicht verwinden. Dass ich nicht die Laufbahn eingeschlagen habe, die sie gern gesehen hätten. Anlageberater bei der Raiffeisen. Oder wenigstens Landrat.

»Die Tigerspinne«, fahre ich fort uneingedenk ihres Wunschbildes von einem smarten Karriereverwandten, »frisst während des Geschlechtsaktes ihren Partner auf.« Ich sinniere ein wenig, lass den Gedanken reifen. »Aber darüber braucht ihr euch ja keine Sorgen zu machen, von der Praxis her, wenn ihr versteht, was ich meine.«

Margret bricht in ein hysterisches Lachen aus. In ihren Augen entdecke ich keine Freude. Paul schielt zur Vitrine. Dort lockt der Bärwurz vom letzten Bayernurlaub.

Warum ich den beiden immer mit morbiden Themen komme, versteh ich auch nicht. Also neuer Versuch, etwas Nettes. »Wusstet ihr«, werfe ich launig ein, »dass Leichen bei ihrer Verwesung Nährstoffe an den umliegenden Boden abgeben? Zum Beispiel Stickstoff? Ein Verwesender bringt rund 2,5 Kilogramm Stickstoff als Beigabe in den Boden. Da freuen sich die Pflanzen.«

Die beiden haben ihre Lektüre sinken lassen, sind jetzt ganz Ohr. »Bei euch im Garten gibt es doch diese Stelle, wo nix wächst und die Hühner ohne jede Hoffnung im Boden kratzen, kein Grashalm, kein Wurm, kein Korn im Staub.«

Paul pumpt sich auf, keucht, presst Wutwölkchen in die Stube. »Der Jung will uns im Garten vergraben! Als Stickstofflieferant. Für seine Cannabisplantage. So weit ist es gekommen mit dem Hallodri!«

Sicher, es wäre manierlicher gewesen, über die Käsewoche zu plaudern. Mir aber mit Enterbung zu drohen, wenn ich den Mund nicht gleich halte: Grenzt das nicht schon an Cancel Culture?

Euer Heinzi

(Friesländer Bote 23.01.2012, letzte Seite)

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