›Äppel klauen!‹ Diese Erinnerung liegt seit Tagen auf meinem Schreibtisch. Es klingt wie eine Aufforderung zu einer Straftat, ist aber nichts weniger als der Hilferuf eines gequälten Hungerleiders mit Namen Heinzi. Der trödelt jeden Morgen mit Rauhaar Klopstock durchs Revier, schön Gassi gehen, und jeden Morgen komme ich (da bin ich wieder) an einem Grundstück vorbei, auf dem mehrere Apfelbäume stehen. Die stehen nicht einfach so da, sondern neigen ihre Äste unter der Last vollreifer als auch voll reifender Früchte, Name weiß ich nicht, Holsteiner Cox vielleicht, oder Granny irgendwas, egal, und die Äpfel reifen und reifen und verursachen bei mir ein Ziehen im Magen, ein Verlangen, fast schon Gier, und dann fallen die Äpfel. Niemand hebt sie auf.
Warum nicht einfach hin und ein paar in die Tasche stecken? Weil da drüben die Alte am Fenster hockt. In ihrem Beobachtungskabuff. Sie guckt. Sie wacht. Keiner darf zu nahe kommen. Alle wollen nur ihre Äppel klauen. Am Tor eine unmissverständliche Warnung: ›Vorsicht! Bissiger Hund! Keinen Schritt weiter!‹
Ich hab keine schlechte Erfahrung mit bissigen Hunden, außer einmal, da kam eine Art Bulldoggenpanzerkreuzer auf mich zugerast. Der hat mich angesabbert und mir dann auf den Schuh gekackt. Danach mit Rauhaar Klopstock rumgeschnuppert und zum Abschied mir ans linke Bein gepinkelt. Warum ich mir das hab gefallen lassen? Na, dich möchte ich sehen, wenn dich so ein Bulldoggenbomber mit scharfem Mundgeruch (Verwesung 3. Grades: Kaldaunen, Aas, Rattenkadaver) anhimmelt bzw. anhechelt, da heißt es, zur Säule zu erstarren, die Luft anhalten und des Ende deiner Tage als Film vorbeiziehen lassen. Als Memento mori.
Das alles geht mir durch den Kopf, wenn ich an dem weiblichen Zerberus vorbeischleiche, ihre stechenden Blicke im Rücken, ihr Verdacht wie ein Elefant im Raum: ›Ich kenne dich, Bürschchen. Du willst Äppel klauen.‹ Neben der Warnung hängt noch ein Schild: ›Hier wohnen Walburga und Harras‹. Wohnen. Das ich lache. Lauern!
Etwa 15 waren es gestern. Jeden Tag kommen 3 bis 5 Falläpfel hinzu. An jedem Tag steigert sich mein kriminelles Verlangen um 3 bis 5 Verbrechenseinheiten. Heute ist es soweit. Zum Abend, wenn die Dunkelheit sich über die Wiesen senkt. Dann gehe ich Äppel klauen.
Euer Heinzi
(Friesländer Bote, 29.10.2022, letzte Seite)