34. Die Untaten der Kohle-Twins

34. Die Untaten der Kohle-Twins

Dass die Kohle-Twins überhaupt wahrgenommen wurden, verdankten sie nicht ihrem Aussehen. Denn gesehen hatte sie noch niemand. Die Kaltenhavener hatten dafür nur eine Erklärung: Die Zwillingsbrüder kleideten sich vollständig in tiefstem Schwarz, traten nur in der Dunkelheit der Nacht ins Freie und schwärzten sogar ihre Gesichter mit Kohlenstaub, daher ihr Name Kohle-Twins. Und so, wie die schwarzen Löcher in unserem Weltall nur aufgrund ihrer Wirkung, wegen der Folgen ihrer Schwerkraft, bestimmt werden können, verhielt es sich mit den Kohl-Twins.

»Mir haben sie einmal«, berichtete der Fahrlehrer Kuno Kästner, »mit 10 Atü ins Haar gepustet, als ich im offenen Kabrio durch die Angergasse gegondelt bin. Eiskalt lief es mir über den Rücken, und am nächsten Tag lag ich mit Fieber im Bett.« Kuno benutzte das Wort ›gondeln‹, eine arge Beschönigung für seine, na sagen wir, akkurate Fahrweise.

Dort, am Ende der Angergasse lag das dreistöckige Angerhaus, aus dem des Nachts angeblich die Kohle-Twins schlichen, um Schabernack und Verwirrung zu stiften. Bademeister Schlotterbeck fluchte nicht schlecht, als ihm auf dem Nachhauseweg die Badehose von den Beinen gezogen wurde. »Ehe ich mich versah, stand ich nackt da, so schnell ging das. Diese verdammten Kohle-Twins, die haben Gummifinger.« Seine Frau Andrea schenkte ihm zwar keinen Glauben, aber, neugierig geworden, machte sie sich um Mitternacht selbst auf den Weg zum Angerhaus. Am nächsten Morgen, bei aufgehender Sonne, fand sie sich in ihrem Rhabarberbeet wieder, vollständig entkleidet und mit Kohlenstaub bepudert. Kleinlaut gab sie zu, dass die Kohle-Twins sie in ihrer Gewalt gehabt hätten. Was da und danach geschehen war, daran habe sie nur noch eine schwache Erinnerung, die allmählich verblasst. Bei diesen Worten verströmten ihre Augen ein überirdisches Leuchten.

In den folgenden Nächten verrammelte und verriegelte Bademeister Schlotterbeck sein Haus, nicht um den Kohle-Twins den Einlass zu verwehren, sondern um seine Frau Andrea am Ausbüxen zu hindern.

Pastor Eckerle bekam davon Wind und schritt ein. Bewaffnet mit einer Bibel und einem Liter Meßwein, dem er der Haltbarkeit wegen ein paar Korngläser vom selbstgebrannten Darmbrandbeschleuniger des Heimatdichters Fuseler beigemischt hatte, postierte er sich, wiederum um Mitternacht, vor dem Angerhaus, holte tief Luft und wiederholte mit Stentorstimme seine berühmt-berüchtigte Predigt, die er jeden Ostersonntag über die Gemeinde zu pfeffern pflegte, ein Orkan der Empörung aber auch der Anbetung des höchsten Gutes, das Gott den Menschen mitgegeben hatte: der Liebe der Erdenbürger zueinander. Insbesondere der Liebe des Pastors zur geschassten Frau des Heimatdichters. Das nur am Rande.

Doch die harschen Worte des Pastors verhallten praktisch im Nichts. Denn die Kohle-Twins waren wohl grad in den Urlaub gefahren und weilten in Berchtesgaden, wie das Rentnerehepaar Frenzel behauptete. Sie selbst hätte dort einen den Zwillinge in ihrer Ferienpension getroffen, am Frühstücksbüfett, wo er Käse auf seinen Teller geschaufelt habe. Von Kohle keine Spur, eher von blondem Flaum auf seiner Oberlippe und irgendwie hermaphroditisch.

Kein Mensch in Kaltenhaven glaubte den Frenzels, schon allein deshalb, weil sie das Wort hermaphroditisch falsch ausgesprochen hatten, es klang wie eine Gemüsesorte. Nee, an ihren Kohle-Twins ließen die Kaltenhavener kein schlechtes Haar.

Nächstes Mal gebe ich die berühmte Predigt von Pastor Eckerle wieder.

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