Im Haus am Anger, kurz Angerhaus, wohnen drei Parteien. Zeitweise sollen sich dort aber bis zu 10 Wohnungsbetreibende aufhalten. Wenn die Kaltenhavener an dem Haus vorbeischlendern, halten sie ihre Nase zu. Es riecht. Höflich ausgedrückt. »Es stinkt wie Modder und Kadaver«, ekelt sich die Konditoreifachangestellte Theodora Rosenwinkel, »da drinnen gammelt Totfleisch, ich sag es.« Bademeister Schlotterbeck unterstreicht ihre Vermutung mit der Behauptung, Verwesungsgeruch würde dort austreten, das kenne er von den Umkleidekabinen, frag nicht wie, und erst die Damentoiletten. Jedes Mal, wenn er auf seinem Weg zur Arbeit am Angerhaus vorbeikomme, würden tote Fliegen aus der immer offenen Eingangstür herausfallen und gelbe Würmer über die Schwelle nach draußen kriechen.
Eine der drei mehrfach bezeugten und amtlich bestätigten Wohnparteien ist Opa Krakau, Alter unbestimmt. »Der wohnt schon seit den 70ern dort«, behauptet Bratenbrutzler Fidi Finkelstein, und der muss es wissen. Weil ihm an seiner Bratbruzzelbude ›Bratkolosseum‹ praktisch die Gesamthistorie des Ortes nebst den gesellschaftlichen Verquickungen zugetragen wird, so im nebenbei, wenn Bratwurst und Fritten verschmaust werden an den Stehtischen vor seinem Kolosseum. »Opa Krakau«, weiß Fidi zu berichten, »hat früher beim Geheimdienst gearbeitet und sieben gegnerische Agenten mittels Rattengift ins Jenseits befördert. Seine Rente soll er vom Iwan beziehen, du weißt schon, von drüben aus Moskau. Ich sage nur toter Briefkasten.« Diese Information sei dem Kriminalkomissar Wenzel Stubbe zwischen zwei Bissen herausgerutscht. Dem Kriminalen kannst du trauen, ja was glaubst du.
Physiotherapeutin Sonja Heidenreich glaubt etwas anderes erfahren zu haben. Eine transgenderische Glaubensgemeinschaft würde über der Wohnung von Opa Krakau im zweiten Stock hausen, Betonung auf ›hausen‹, denn die Transgenderischen würden auch ihren Lebensstil transgendern, und da kann man sich denken, was das zu bedeuten hat.
Ganz oben rechts, eingekerbt in das Dach des Angerhauses, schaut ein Mansardenfenster trübe und schmutzig auf die Straße. Zugezogene Gardinen, vergilbt, fleckig, verwehren einen tieferen Einblick in das Zimmer. Im ewigen Dunkel dieses Raums soll ein Mensch im Tiefschlaf vor sich hindämmern, quasi Koma. Der Schlafende, sei er nun männlich oder weiblich, gilt nicht als offiziell eingetragener Bewohner des Hauses. Nur so viel weiß man: Diese Person trägt ein Nachthemd mit japanischen Motiven. Opa Krakau hat sich davon überzeugen können, als er einmal auf den Dachboden gestiegen ist, um seine Armeepistole zu ölen. Versehentlich habe er die Tür zu dem Mansardenstübchen aufgestoßen, »und da lag diese Person, halb aufgedeckt, ein Bein hing schief und unnatürlich abgewinkelt über der Bettkante. Als ich es unter die Decke schieben wollte, denn der Winterwind strich eisig durch die Stube, fühlte ich nur noch kaltes blutleeres Gebein. O verdammich, dachte ich, der Kerl ist hinne, aber dann fiel mir ich eine seltsame Maserung auf dem nackten Bein ins Auge, und als ich näher hinschaute, entpuppte sich das Bein als filigran geschnitztes Holzstück. Auf der Wade des Holzbeins waren Blümchenmotive aufgemalt, mit feinen Strichen und handkoloriert. Ich habe noch Gute Nacht gesagt und die Tür schnell wieder hinter mir zugezogen.« Wer’s gaubt.
Glaubwürdig erscheint auch nicht gerade die Aussage von Heimatdichter Gregor Fuseler. Er habe eines Nachts einen frauenähnlichen Herrn gesehen, oben auf dem First des Angerhauses. Die oder der sei in einem geblümten Gewande dahingeschwebt, kaum dass die Zehen des schlafwandelnden Geschöpfes die Dachziegeln berührt haben. Apotheker Tittelbaum rollte mit den Augen: »Dem Fuseler ist der eigene Schnaps durch den Darm gebrannt und hat Halluzinationen erzeugt. Ein Beweis für die aktuelle These, dass der Mensch mit dem Darm denkt.«
Überhaupt bietet sich jede Nacht den Beobachtern des Angerhauses ein mysteriöses Schauspiel. Bloß, dass sie nichts davon sehen oder sonstwie mitkriegen. Sobald die Dunkelheit sich über die Häuser und Gärten gesenkt hat und die Straßenlaternen gelöscht sind, schleichen zwei Gestalten zur Hintertür hinaus, die Zwillingsbrüder Meierjahn, die vor Jahren mal die Kanalisation mit Bauschaum verstopft haben sollen, leider konnte kein Augenzeuge gefunden werden. Denn niemand sieht sie. Sie kleiden sich schwarz und tarnen ihre Gesichter mit Kohlenstaub. Deshalb auch ihr Deckname ›Kohle-Twins‹. Woher man weiß, dass sie nachts vor dem Angerhaus ihr Unwesen treiben?
»Tja, das ist eine gute Frage«, sagt Pastor Eckerle und setzt das Thema auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung im Goldenen Frosch. Dort tagt jeden Donnerstag der Federweißer-Club, ein arrivierter Zirkel höhergestellter Sowiesohochgestellter. »Es geht nicht an«, bollert Müllerjahn, Ewald, seine Zeiches zweiter Vorsitzender des Clubs, »dass unsere Kinder des Nachts mit solchen Gestalten auf die Piste gehen. Uns hat man früher den Hosenboden versohlt.« Müllerjahn hält inne: »Den letzten Satz bitte ich aus dem Protokoll zu streichen.«
Bürgermeister Christian Woltersleben haut auf den Tisch und will zur Causa Kohle-Twins eine seiner berühmten Metaphern in die Runde schleudern, aber merkwürdig, er fängt an zu stottern und verheddert sich in einem Buchstabensalat. Wohl weil ihm plötzlich die dritte offiziell eingetragene Wohnpartei im Angerhaus eingefallen ist, eine Einpersonenpartei, weiblich, Mitglied im Kaltenhavener Rat, Name Juliane Semmelweis. Und da wird ihm blümerant und fahrig und heiß zwischen den Lenden und gedanklich in einer Sackgasse des gefühlig Ausufernden. Wir ahnen, dass die Semmelweis seine Zustände hervorruft. Mit dieser Ratskollegin hatte er des öfteren die Finanzen der Gemeinde im kleinen Kreis besprochen, unter vier Augen, um genau zu sein, und die Hotelrechnung hatte er in bar bezahlt.
Nächstes Mal erzähle ich von den Untaten der Kohle-Twins.