Ein Tag in Worpswede

Wer nach Worpswede fährt, erwartet ein Künstlerdorf mit allem, was dazu gehört: Ein Dorf und Künstler. Vor der Fahrt hatte ich einiges über das Künstlerdorf Worpswede gelesen, Stichworte: der Barkenhof, Heinrich Vogeler, die Künstlerkolonie, der R. M. Rilke, die Museen, Paula Modersohn-Becker, das Bild »Das Konzert oder Sommerabend auf dem Barkenhof« von Heinrich Vogeler, das Buch »Konzert ohne Dichter« von Klaus Modick, die Käseglocke sowie Künstlerhäuser, aus denen dir die Kunst anspringt wie, sagen wir, eine Zecke an die blanke Wade beim Pilzsammeln im Unterholz. Mit anderen Worten: Hochkultur & Historische Reminiszenzen, quasi Gänsehaut.

 

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Im Zentrum der Kunst

 

Zum Herzen des Künstlerdorfes vorzudringen heißt, einen aufgeräumten ausladenden Parkplatz anzusteuern und zu begehen. Von hier aus: Kunst. Das Gefühl beklemmender Hochkultur, dem ich womöglich nicht gewachsen sein könnte, weicht beim Anblick hie & da parkender Autos einer aufseufzenden Erleichterung. Sternförmig vom Parkplatz ausstrahlend verlaufen die Wege zu Vogeler & Rilke & Modersohn-Becker und überhaupt zu den Stätten & Spuren der Künstlerkolonie, doch halt, vorher fängt mein Auge eine Installation ein, dort am Toiletten- und Kioskhäuschen: Wie zufällig hingeschlotzt und doch komponiert lagern unter der Infotafel Ballen von Zeitungen, geschnürt in Plastikriemchen. Erstes ahnungsvolles Aufleuchten, Hinweis und Selbstbeschreibung zugleich, Kunst.

 

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Komponiert hingeschlotzt

 

Ein Reisebus hält, schockweise quellen Weißhaarige heraus im strengen Rentner-Dresscode (beige Funktionsjacke, beiges Hosenwerk). Zielmunter schreiten sie aus, die gerade Linie einhaltend, dorthin, zum preisgünstigen Café, wo Torten und Flammkuchen zum Verzehr animieren. Andere Grüppchen streben zu den Toiletteneingängen, und da spüre auch ich den Drang des Harns, folge den Rentnern und finde mich in einer kunstvoll ausgemalten Weihehalle wieder mit grünen und roten Schlangen ausgezierten Wänden, einem Interieur, das die Profanität der Stätte Lügen straft.

 

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Hier artikuliert sich das banale Pissen als performatives Event, eine Fremderfahrung, quasi ein begehbares Künstlerabort wie andernorts eine begehbare Künstlerbiografie zum Erkunden einlädt (s. Ein Nachmittag in Dangast).

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Begehbares Künstlerabort

Genug der Impressionen und überwältigenden Fülle an Anregungen. Draußen schnell noch einen Blick auf eine Buddha-Statue geworfen, genannt »Der Bonze des Humors« (oh diese Worpsweder!),

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Der Bonze des Humors

und da fallen auch schon unsere Rentner aus dem Café, ergiebig aufgefüllt, gestärkt für die Fahrt zum nächsten Kunsterlebnis. Der Busfahrer wartet bereits, und niemand, auch ich nicht, vermisst den Buchladen und den Netto-Markt und den 1-Euro-Laden, Zulieferer, die vermutlich weit entfernt vom Worpsweder Kunstzentrum das Völkchen bedienen, das durch die Weden worpst und sich nicht ungeschickt »Die Worpsweder« nennt.

 

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