11. Der Felsenvorspung, der rückwärts zählen konnte

11. Der Felsenvorspung, der rückwärts zählen konnte

Ihr Streit dauerte bereits drei Wochen. Die Stereoboxen im Wohnzimmer des Pastors Eckerle konnten das Keifen einfach nicht lassen. Kaum hatte die eine einen Ton herausgeorgelt, pfefferte die andere eine Antwort, die die Ohren der nicht anwesenden Pastorentochter Emilia hätte glühen lassen vor Scham. Selbst draußen vor dem Haus nahmen Passanten das Gemetzel der Zwillingsboxen wahr, als gedämpftes Getöse wie von durcheinanderkrachenden Müllcontainern. Aus der rechten Box, die Eckerle auf den Namen Agathe getauft hatte, schrillten jetzt zerrende Laute wie von einer Kreissäge im pubertären Aufruhr. Offenbar war die Kalotte des Hochtöners aus dem Lot gesprungen. Begathe, die Zwillingsschwester zur linken, blecherte höhnisch auf: »Als ob deine Frequenzen nicht schon genug stolpern wie besoffen und zugenäht, mit deinem Bärtchen unter dem Mitteltöner siehst du auch noch aus wie der Stalin damals im Sowjetstaat.«

Worauf Agathe ihren Hochtöner derart dissonant pfeifen ließ, dass Pastor Eckerle panisch aus dem Haus stob und zu seiner Beruhigung das Begräbnis der Witwe Hartmann vorzog, obwohl sich diese noch in ihrem Sterbebett wälzte und unentwegt nach ihrem Notar keuchte, der hatte ihr Testament zu ändern, denn der Hundsfott, dieser Pastor mit seiner Übereile, sollte keinen Cent erben für sein angeblich marodes Kirchendach, eine der dümmsten Ausreden der Kirchendiener, wenn sie ihren Hals nicht voll genug kriegen konnten an Erbschaftsgold und all den Pfründen, die das Bistum wie den Sündenpfuhl Las Vegas in der Wüste aufquellen lassen würde, nur so als Beispiel für die Unmäßigkeit, die keine Worte findet in der Bibel.

Drinnen in der Stube bebte und schäumte Begathe, die linke Stereobox, vor Wut. Zwar sahen sich die Boxen zum Verwechseln ähnlich, wie es nun mal bei Zwillingen gang und gebe ist, aber knapp unter dem Mitteltöner der Begathe krochen ein paar dürre Haare durch den Bespannstoff, ein Büschelchen, ein Schnurrbärtchen, »wie der von dem Hitler«, trumpfte Begathe auf, «den Stalin jedenfalls hängst du mir nicht an die Backe«.

Derweil hatte Pastor Eckerle vor dem ausgehobenen Grab der Witwe Hartmann Stellung bezogen, und er sprach vom Gleichnis des Felsenvorsprungs, der rückwährts zählen konnte. »So wie der Vorsprung«, richtete sich Eckerle an die eilig herbeigerufenen Trauergäste, »zählt im Leben wie auch in der Ewigkeit nicht die Zahl noch das, was davor kommt, wenn man rückwärts zählt.« Er legte eine Pause ein, blickte sich um und fuhr fort: »Wir wollen hier der Witwe Hartmann gedenken und an die Vorschrift des Heiligen Geistes, nicht rückwärts zu blicken noch zu zählen, sondern im einig Wohlgefallen die Hände zu raufen.« Die Rede des Pastors wurde wirr und wirrer, aber die Trauernden nahmen es gelassen hin. Alle im Dorf wussten vom Terror, den die Zwillinge Agathe und Begathe im Hause des Pastors veranstalteten. Da war es schon ein Wunder, dass der Eckerle noch nicht vollständig der Demenz erlegen war oder wenigstens einen altersgerechten Tatterich von dannen trug.

»Somit segne ich euch Gotteskinder und gebe euch das Durcheinander, äh, das gewisse Dingsda, mit auf dem Weg der Geächteten.« Eckerle warf ein paar Krümel in das Loch.

»Amen«, sagten alle.

Die Boxen Agathe und Begathe aber schlugen weiterhin mit kreischenden Tonkaskaden aufeinander los. Inzwischen hatte die Witwe Hartmann ihr achtes Testament unterschrieben, und sie ging in die Ewigkeit ein in der fröhlichen Gewissheit, dem Pastor Läuse ins Fell gesetzt zu haben.

Nächstes Mal erzähle ich, wie ein Mehlsack durch die Fahrprüfung fiel.

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