Der dicke Lehmann war von masurischer Herkunft mit einem Schuss russischer Grenzübertretung. Das Schwingen eines Knüppels gehörte seit seiner Geburt zu seinem intuitiven Handling, man kann sagen, es wurde ihm in die Wiege gelegt, so wie die Zigeunermama ihrem Sprößling die Gitarre ins Bettchen steckt, damit er einmal einem Django Reinhard das Wasser abgraben kann. Sie hatten also viel gemein, der Lehmann und der Django.
Als der Lehmann das Laufen entdeckt hatte, pflegte er lallernd und knüppelschwingend durch die Wohnstube zu torkeln, wobei er Vasen als auch Flaschen und Gläser aus dem Weg räumte, dem Knüppel sei Dank. Da traf es sich, dass beim Probeschwingen mit einem besonders elegant geformten Knüppel, einem Derivat aus des nahen Waldes Frucht, sprich Eichenbaum, Großmutter Martha sich an den 6-jährigen heranpirschte, um ihm ein Leibchen umzuhängen, wovon der fidele Knirps nichts ahnte, war er doch versunken im Spiel und Schleuderspaß des Eichenknüppels. Die Keule sauste, prallte mit einem knackenden Geräusch an die Schläfe der Großmutter und streckte sie nieder.
Ein Missgeschick. Welches prägend für die Entwicklung des aufstrebenden Lehmann werden sollte. Wer schon schultert in jungen Jahren die Bürde des Oma-Mordes, ohne Ich, Es und Über-Ich durcheinanderzubringen?
Im zehnten Lebensjahr, just zu seiner Geburtagsfeier, erschlug der Lehmann seinen Cousin Alfons, als dieser, in beiden Händen die Softeistüten vom Eiswagen transportierend, Schritt für Schritt heranschaukelte, wie auf einem dünnen Seil balancierend hoch über den Schluchten von New York, so was hat man schon im Fernsehen beobachten können. Nicht aber den Knüppelschlag wie von ungefähr, dessen Wucht den Alfons von den Füßen riss. Der Lehmann stieß den ersten Fluch seines Lebens aus: »Verdammte Schweinerei. Den Fleck kriegt man nicht mehr weg.«
Man steckte ihn in ein Heim, und von da aus in den Jugendknast und von da aus auf ein Segelschiff mit neun anderen Schwervermittelbaren, eine Reise, bei der die Insassen Läuterung erfahren und soziales Verhalten lernen sollten. Es vergingen Jahre, ehe das Schiff am Horizont wieder auftauchte. Das Anlegemanöver an der Hafenkaje nahm mehrere Stunden ein Anspruch, ein Steg zerbrach, drei Gaffer riss es in das gubbelige Hafenwasser, worauf Bürgermeister Christian Woltersleben zu einer Sondersitzung des Stadtparlaments aufrief, um ein Gesetz gegen das Gaffen von Havarien zu untersagen, sonst Bußgeld. Inzwischen hatte das Segelschiff den Fahrgastdampfer ›Fräulein Siemtje‹ gerammt und in das Hafenbecken versenkt. Die Kaltenhavener schlossen Wetten darüber ab, ob der pädagogische Zweck der Schwervermittelbarenreise während der Umrundung von Kap Horn über Bord gegangen war. Das ging bis in die Nacht, und als endlich das Schiff an der Kaimauer vertäut war, spazierte nur der Lehmann von Bord, eine Havanna zwischen den Lippen, einen Furz in die Hose. Wo die anderen Besatzungsmitglieder verblieben waren, wurde er gefragt.
»Welche anderen?« frug der inzwischen Vollbärtige zurück und zog den Knüppel. Da sagte keiner mehr etwas.
Mit dunkle Ahnungen kehrten die Einwohner zurück in ihre Wohnstuben. Wenn sie tagsüber dem Lehmann begegneten, wechselten sie schnell die Straßenseite, lieber kein Wort an ihn richten, wer weiß, wer weiß. Nachts wagte sich niemand mehr außer Haus. Wohl hatte Pastor Eckerle den agilen Mittzwanziger in den Chor gesteckt, unauffällig neben die ebenso schwer vermittelbare Angela Kattelbach. Eckerle hatte gehofft, da würde sich was anbahnen und den Herrgott erfreuen. Aber der Herrgott erspähte von oben einen Ringtausch: Der Lehmann nistete sich beim Heimatdichter Gregor Fuseler ein, und der Fuseler gab dafür seiner Frau Else-Marie den Laufpass, was diese mit einem Jubelkonzert abfeierte, bei dem der gesamte Chor dem ›Fuseler Darmbrandbeschleuniger‹ zusprach, dem berüchtigten Selbstgebrannten des Heimatdichters. Sogar Pastor Eckerle hob den Freudentrunk an die Lippen, rollte hernach frenetisch mit den Augen, stieß ein Stoßgebet des Dankes aus und schwängerte die Else-Marie.
Lehmann nährte sich fortan vom Fuseler Darmbrandbeschleuniger, und er ließ keine Mahlzeit aus, ein Zeichen von Seriosität und Zuverlässigkeit. Der Schnaps machte ihn dick. Wenn der Lehmann knüppelschwingend durch die Gassen von Kaltenhaven walzte, ertönten keuchende Warnrufe und das Getrappel von Flüchtenden: »Der dicke Lehmann kommt. Rette sich, wer kann.«
Die Touristen blieben weg, der Ort versank in eine bleierne Ruhe, bekannt aus Funk und Fernsehen. Schließlich flog dem Bürgermeister Christian Woltersleben die rettende Idee seiner Frau zu. In einer nichtöffentlichen Ratssitzung beschlossen die Parteien einstimmig, dem Lehmann die Position eines Wachtmeisters zu vergeben. Man wolle versuchen, den Knüppelschwinger so einzuhegen und zu konditionieren, dass er nur noch auf renitente Knöllchenverweigerer losging. »Dann sind Schuhe im Karton«, verhedderte sich Bürgermeister Christian Woltersleben im Metaphernsprech, »und wir können mit einer Liebenswürdigkeit zusätzlich punktieren«
So geschah es. Seitdem stapft der dicke Lehmann von morgens bis abends knüppelschwingend durch die Straßen von Kaltenhaven und bringt jeden Knöllchenverweigerer zur Strecke. »Kaltenhaven ist wieder stubenrein«, lobte Woltersleben seinen Schachzug, »da kackt kein Kater in den Kaffee.«
Nächstes Mal erzähle ich von dem Rachefeldzug des Bauchnabelpfeifers Theophrast.