Zunächst muss ich auf den Sprechenden Hans eingehen. Mit diesem Ausdruck verbindet der Uneingeweihte vielleicht die Geschichte vom klugen Hans, dem Gaul, der rechnen konnte. Dem ist nicht so. Der Sprechende Hans von Kaltenhaven stand unbeweglich und unverrückbar hinter dem Rathaus, in Wurfweite einer dunklen Nische, dort, wo die Gutgelaunten, will sagen Angeheiterten und Angeschubberten, nach getaner Suffarbeit im nahegelegenen Gasthof Goldener Frosch auf dem Nachhauseweg ihren Abschlag tätigten, der übervollen Blase zur Erleichterung, aber ich komme ab vom Thema.
Als Sprechender Hans bezeichnete der Leiter des Ordnungsamtes keinen Gaul, sondern die stillgelegte Telefonzelle, die, wenn die dunkle Nische besetzt war, alternativ als Ableiter für die Blasenpein genutzt wurde, und wer dem Gestank des Urins zu folgen auf sich nahm, steckte bald in einer Zwickmühle: Wohin gehst du, Wanderer auf den Spuren der sich Erleichternden: nach rechts zur dunklen Nische oder nach links zum Sprechenden Hans?
Als Institution ging die müffelnde Telefonzelle, also der Sprechende Hans, in die Annalen der Kleinstadt ein. Es war die Erscheinung des Sprechens, quasi aus dem Off, die sie über die Stadtgrenzen hinaus bekannt machte. Dieser Sprechakt trat zum ersten Mal am 20. Juni 1985 zutage und überkam die damals 10jährige Milena Rutschky, die eine Abkürzung von ihrem Schulweg eingeschlagen hatte. »Hau ab, du Schlampe!«, soll die Telefonzelle ihr nachgerufen haben. Worauf die Kirchturmglocke 12 Uhr 30 schlug. Milena merkte sich die Uhrzeit und wartete. Als die Glocke 12 Uhr 45 schlug, schrie die Telefonzelle unflätig: »Schleich dich, du Wanderhure!«
Der Erzählung des Mädchens wollte zunächst niemand glauben. Die Kleine kann nicht zwischen Wunschdenken und Wirklichkeit unterscheiden, beruhigten sich die Erwachsenen. Bis einen Monat später, am 12. Juli um exakt 12 Uhr 30, die Telefonzelle eine Frau Daniela Hopfenkötter angeiferte, eine Touristin. Frau Hopfenkötter hatte sich grad hingehockt und wollte sich klammheimlich am Sockel der Telefonzelle erleichtern. »Verpiss dich, du alte Stinksau!« belferte es aus der Telefonzelle. Na, da ging ein Tröpfchen in die Hose und noch eins zur Bestätigung. Frau Hopfenkötter sah sich erschrocken um, aber da war niemand. Pah, dachte sie, das wird der Papagei vom Pastor Eckerle sein, drüben aus der Sakristei der Kirche, man hat ja schon so einiges gehört über die Zustände dort.
Pastor Eckele aber besaß keinen Papagei. Und mit Eduard, dem einzigen Papagei in der Stadt, war auch kein Blumentopf zu errichten, wie Bürgermeister Christian Woltersleben sagen würde. »Eduard, das ist dem Tittelbaum sein Kreuz«, lästerten die Leute über den Papagei des Apothekers. Eduard konnte nach einer Mittelohrentzündung nichts mehr hören abgesehen von einer einzigen Frequenz, die der Polizeisirene. Seinem Naturell gemäß ahmte Eduard diese Frequenz ausgiebig nach, was hektische Ausweichmanöver und Kollisionen in der Straße zur Folge hatte. Der Effekt nutzte sich bald ab. Wenn die Kaltenhavener heute das Martinshorn hören, blicken sie noch nicht einmal auf: »Ach der Eduard vom Apotheker Tittelbaum. Dem Vieh müsste man den Schnabel zubinden.«
Weniger lustig fand die Polizei den falschen Hasen (wie Woltersleben sagen würde). Da niemand mehr die Polizeisirene ernst nahm, blieb der Streifenwagen beim Einsatz oft im Verkehr stecken, da half auch die Trillerpfeife nicht, denn Eduard hatte dazugelernt und konnte sogar ein Fußballspiel anpfeifen, oder auch abpfeifen, was die Schiedsrichter wiederum auf die Palme brachte.
In der Stadt rumorte es. Man brachte eine Resolution auf den Weg, die das »Abmurxen« des Papageis forderte. Tittelbaum schäumte. Kam jemand mit einem Rezept, untersuchte er es auf Unleserlichkeit der Unterschrift. 95 Prozent der Rezepte gingen zurück an die Absender. Jetzt schäumten die Ärzte.
Oh, ich sehe, die Nacht bricht an, und das Licht muss gelöscht werden.
Nächstes Mal erzähle ich, wie es zu dem Namen Sprechender Hans gekommen ist und welche Komplikationen daraus erwuchsen.