In der vorigen Gute-Nacht-Geschichte hatte ich das seltsame Gebaren einer stillgelegten Telefonzelle angesprochen, die hinter dem Rathaus vor sich hinstank, anders kann man es nicht ausdrücken. Der Münzfernsprecher war längst abgebaut. Die Kaltenhavener hatten dem mit Rost angefressenen Häuschen den Namen ›Sprechender Hans‹ verpasst, und diese Bezeichnung bezog sich auf eine Unart der Rostlaube: Sie überhäufte vorbeieilende Passanten mit wüsten Beschimpfungen. Stets am 12. jeden Monats, um exakt 12 Uhr 30.
Nach den ersten verbalen Ausfällen der Telefonzelle hatte sich die Kunde davon rasch in der Gemeinde verbreitet. Den Einheimischen mit ihrer Vorliebe für krude Späße und einer perfiden Fremdenphobie kam das wie gerufen. Sie raunten sich Geheimwörter zu, trafen sich zu Verschwörungskonferenzen in den Duschkabinen des Fußballvereins und verabredeten geheime Signale. Als die Urlaubssaison anbrach und der Verkehr des Küstenortes wie jedes Jahr unter den einfallenden Touristen zusammenbrach, gingen sie in den Angriffsmodus. Kam ein Tourist vorbei und fragte nach Sehenswürdigkeiten, nahmen sie ihn beiseite und verrieten ihm einen Geheimtipp: »Dort, hinter dem Rathaus, gegenüber einer nach Urin stinkenden dunklen Nische, wird sich am 12. ein Wunder offenbaren, wie schon in den Monaten zuvor. Eine Erscheinung wird aufleuchten, das Wort ergreifen und den Kranken Trost und Hoffnung spenden. Die Heilkraft ihres Segens vermag schwere Gebrechen zu heilen, insbesondere die hier auftretende äußerst ansteckende Paraluzide Aminobolie, eine Seuche, die einen ekelhaften Ausfluss verursacht hinten im Nacken sowie auf der Brust, mit Juckreiz und klebrigen Schlieren.«
Einmal in die Welt gesetzt blühten bei den Angesprochenen prompt Symptome von Juckreiz und klebrigern Schlieren auf, hinten im Nacken sowie auf der Brust. »Mich hat es erwischt«, beichteten sie betreten, »die Paraluzide Aminobolie raubt mir schier den Atem.« Na ja, man kann auch übertreiben, aber so sind sie, die Feriengäste. Besorgt erkundigten sie sich nach dem Weg zum Wallfahrtsort und eilten davon. Unterhalb der Telefonzelle traten sie unruhig von einem Bein aufs andere, entblößten ihren Nacken und ihre Brust und schauten sich verstohlen um. Wie wird die Erscheinung zutage treten? Wird ein Donnergrollen vom Himmel herabfahren? Wird eine schwarze Jungfrau das Tageslicht verdüstern? Wird Heilwasser auf die nackten Nacken tropfen, werden Stromschläge brennende Male auf der Brust hinterlassen?
Punkt 12 Uhr 30, wie vorhergesagt, schlug das Wunder zu. »Scheißtouristen«, schepperte es aus der Telefonzelle, »verpisst euch, ihr Arschgeigen. Ihr stinkt. Ihr verpestet die Luft. Drecksgesindel. Hodenlutscher allemal. Ihr Arschficker. Eure Mütter haben es mit der ganzen Fußballmanschaft getrieben. Und mit dem fahrenden Volk. Mit dem Pastor Eckerle sowieso.«
Die Kaltenhavener beobachteten das Spektakel aus sicherer Entfernung und lachten sich buckelig. »Holla«, riefen sie gut gelaunt, als die Beschimpften verstört an ihnen vorbeitrabten, »brennt es jetzt auch im Hinterteil?«
Wie aber ist es überhaupt dazu gekommen, der keifenden Telefonzelle den Namen ›Sprechender Hans‹ zu verleihen? Der Überlieferung nach soll die Witwe Kohlweiser dafür verantwortlich gewesen sein. Das ist die, die später vom Zahnarzt Diego Fratelli mit dem Bohrer massakriert wurde, weil die Kohlweiser über die Behandlungsmethoden des Dentisten gemeckert hatte. Beim Stichwort Meckern und unflätiges Schimpfen platzt einem natürlich gleich ein Verdacht unter die Stirnhaube, der sich allerdings auf andere Weise bewahrheiten sollte.
Die Witwe Kohlweiser wurde ebenfalls Opfer der fluchenden Telefonzelle, an einem 12. Oktober um exakt 12 Uhr 30. »Hundefickerin«, schrie es aus der Zelle, »mach dich vom Acker mit deiner Meckerfresse. Du kackender Pavian. Schweineschnauze. Restabfall vom Schlachthof …« Doch die Witwe ließ sich nicht beeindrucken. »Das ist Hans, mein verstorbener Mann«, behauptete sie, »den habe ich sofort wiedererkannt. Der hatte das Tourette-Syndrom, der alte Sack, der vermoderte. Das Rabenaas scheint aus seiner Kiste gekrochen zu sein und hat sich in der Telefonzelle eingenistet. Tot oder nicht tot: Der Penner versteckt sich da irgendwo, und sein Gestank verrät ihn. Der hat sich im Suff ständig eingepisst. Alleinstellungsmerkmal, sage ich nur.«
Die Witwe ließ sich partout nicht davon abbringen, dass ihr verstorbener Mann in der verlassenen Zelle krakkeelte und mit verbalem Dreck um sich schleuderte. Bald hieß es in Kaltenhaven nur noch: »Der Sprechende Hans hat wieder zugeschlagen.« Fidi Finkelstein, der Brutzelbräter von der Bruzzelstube Bratkolosseum hatte dann die Idee von der Wunderkraft der Telefonzelle. Vom Sprechenden Hans wurde sogar im Regionalfernsehen berichtet, das war Jahre später, die Witwe lag längst unter der Erde, Zahnarzt Diego Fratelli ritzte Strichmännchen an die Wand seiner Gefängniszelle, und in der Gaststätte Goldener Frosch kredenzte der Wirt ein Spezialgedeck Diabolo: Ein Liter Maibock plus zwei Fuseler Darmbrandbeschleuniger, dem Selbstgebrannten des gleichnamigen Heimatdichters. Immer am 12. jeden Monats. Fuseler hatte einen Trinkspruch beigesteuert, den die Jugend als Rap ins Internet brachte:
Der Hans im Hintern beißt und juckt,
Ein Fötzel, der ins Kornglas spuckt.
Verstand niemand, war auch egal.
Nächstes Mal erzähle ich von einem neuen Märchen.