Eine in die Neuzeit katapultierte Version des Märchens ›Hänsel und Gretel‹ hatte der Heimatdichter Gregor Fuseler zu Papier gebracht. Nun fehlte ihm nur noch ein schlagkräftiger Titel, einer, der das Publikum quasi in den Abgrund riss, oder, wie Bürgermeister Christian Woltersleben geistreich von sich gab: »Die Schlagzeile wird eine Spalte ins Bewusstsein der Leser keilen, darin das Staunen wird ausufern.« Gut gesagt, aber als Titel unbrauchbar.
»Worum geht es eigentlich bei deinem Neuzeitmärchen?«, frug Apotheker Tittelbaum den Heimatdichter am Rande eines Chorkonzertes im Gemeindesaal. Kantor Ephraim Nettelbeck, ganz in seinem Element, hob gerade den Dirigierstab und fuchtelte damit so expressiv herum, dass ihm der Stab entglitt und in das Publikum sauste, genau auf den Üppigbusen der Frau Elsbeth Scheidenhauer. Die Umgebenden lachten unterdrückt schadenfreudig, denn die Frau Scheidenhauer war als sittsam und moralisch unnachgiebig bekannt. Bademeister Schlotterbeck prustete sogar enthemmt los, was ihm einen Knuff seiner Ehefrau einbrachte, und auch die anwesende Putzfrau Hermine Fangmann, die sich eine guten Ruf als sexuell aufgeschlossen und gemeinsinnig erarbeitet hatte, konnte sich ein Gickeln nicht verkneifen.
»Ich habe mir erlaubt«, antwortete Fuseler auf die Frage des Apothekers, »das Märchen ›Hänsel und Gretel‹ auf eine höhere Bewusstseinsstufe zu heben und das Ressourcenproblem sowie die Klimakatastrophe des 21. Jahrunderts in die Handlung einzuflechten.«
Studiendirektor Flemming vom Klopstock-Gymnasium gesellte sich zu den beiden. »Kommt in ihrer neuen Version etwa auch eine Hexe vor? Dann hätten wir die Feministen auf dem Buckel.«
»I wo«, schwadronierte Fuslerer beglückt bei soviel Aufmerksamkeit aus den Reihen der Intelligenzija, »als Knusperhäuschen habe ich die Altstadtkirche umfunktioniert, und die Hexe wird von einem korrupten, notgeilen und zutiefst konsumgierigen Pastor ersetzt.«
»Kommt mir bekannt vor«, mischte sich Bürgermeister Woltersleben ein, »als Titel könnte ich mir daher vorstellen: Die Jungfrau und der Kirchenbock.«
»Oder«, fiel Tittelbaum ein, »Der fesche Gardeoffizier und seine ruhmreiche Vergangenheit.«
»Häh?«, machten die anderen. Der Tittelbaum hatte wohl zu viele seiner selbstgedrehten Muntermacherpillen geschluckt.
»Und wie ist das«, mischte nun auch Pastor Eckerle mit. Er war hinzugetreten, nachdem das Chorkonzert wegen des unangemessenen Sexualangriffs auf die sittsame Frau Scheidenhauer abgebrochen worden war und die Leute sich in die nahe Gaststätte Goldener Frosch verkrümelten.
»Wie ist was?« hakte Fuseler nach.
»Was macht denn dieser weltzuwandte Pastor in deinem modernen Märchen: Sperrt er verirrte Touristen in seine Foltersakristei und stopft sie mit Gänseleber, Mettwurst und Steroiden, bis sie platzen?«
Fuseler lehnte sich zurück. Selten stand er im Mittelpunkt wie jetzt, wo ihm die Honoratioren der Stadt die Zunge aus dem Hals herausdrehten, um der Weisheit Kern zu entlocken, wie Bürgermeister Woltersleben dichterisch zu Protokoll geben würde. Fuseler räusperte sich. »Eure Einwände und Zuwiderhandlungen haben mir endlich die Erleuchtung eines schlagkräftigen Titels zugespielt. Mein Märchen wird heißen: Blutbad im Atomkraftwerk. Den Text werde ich neu aufsetzen wie eine Zwiebelsuppe mit ordentlich Knoblauch.«
Die anderen nickten und trampelten zustimmend mit den Füßen.
»Mit unserem Fuseler ist kein Spatz auf dem Kirchturm sicher«, klopfte Bürgermeister Woltersleben dem Heimatdichter die Ohren voll. »oder, um dem Volksmund die Andacht zu erweisen: Wer den Fuseler hat, ist des Himmelreichs Königtum.«
Nächstes Mal erzähle ich eine ganz andere Geschichte.